Eurovision Song Contest: Nicht zu unterschätzen
Jamie-Lee tritt bei dem Wettbewerb in Stockholm für Deutschland an. Mit ihrem Manga-Style will sie niedlich aussehen, aber nicht allen gefallen.
Am Ende unseres Gesprächs frage ich sie: „Jamie-Lee, Sie sind ja 17 Jahre.“ So jung war sie, als sie im Februar den deutschen Vorentscheid in Köln zum Eurovision Song Contest gewann. Und so viele Jahre hatte sie auch auf den schmalen Schultern, als sie beim Sender Vox zum Darling der jüngsten Staffel „The Voice“ gekürt wurde. Jamie-Lee „flashte“ alle, wie ihre Mentoren Smudo und Michi Beck es nannten. Jetzt aber, noch in Berlin und einige Wochen, ehe es nach Stockholm zum ESC auf die Reise geht, widerspricht sie umgehendst: „18“.
Diese junge Frau aus der Nähe von Hannover, Jamie-Lee Kriewitz, Sängerin, legt wie alle in ihrem Alter großen Wert auf die korrekte Altersangabe: Bloß nicht zu jung sein. Seit einer Woche ist sie in Stockholm. Eben die ersten Stufen auf dem Wege zum Ruhm im Showbusiness emporgeklettert, wird sie nun von einer NDR-Delegation in diesen sonnigen, frühsommerlichen Tagen im Norden vor dem ganzen Rummel beschützt. Gefühlt hat sie täglich 20 Presse- und Promotermine zu absolvieren.
Aber ist sie eine „Puppet On A String“? Ist sie die Schüchterne, die naive Alternative zu Ann Sophie? Zu jener Frau, die voriges Jahr Deutschland beim ESC vertrat und während aller Probentage eine Aura kultivierte, dass ihr eigentlich niemand das Wasser reiche könne und der Sieg ihr bloß noch beglaubigt werden muss. Um dann umso desaströser, Allerletzte des Abends zu werden.
„Jamie-Lee, hat es Sie erschreckt, bei den Proben das erste Mal im Globen – dieser Riesenhalle, 80 Meter hoch – auf der ESC-Bühne zu stehen?“ Sie antwortet: „Nein. Es hat sich gut angefühlt.“ Eine reife Erwiderung. Hätte sie sagen sollen, was doch ganz naheliegend wäre? Dass man bislang gewohnt war, in besseren Schulaulen zu performen oder in TV-Studios, wo die Decke fast in Griffhöhe liegt?
Sie wollte und will
Nein, man darf Jamie-Lee nicht unterschätzen. Eine Castingshow wie „The Voice“ gewinnt niemand einfach so. Am Tag nach ihrem Triumph wurde sie gefragt, ob sie sich vorstellen könne, es beim ESC zu probieren. Der Plattenfirma Universal ist es wichtig, dass die Welt weiß: Wir haben das nicht bestimmt, wir haben sie gefragt. Jamie-Lee wollte. Und will. „Ich habe gedacht, die Chance kriegt nicht jeder, das ist eine Ehre. In ein paar Jahren kann ich dann sagen: Ich habe für Deutschland beim ESC gesungen. Wie krass das alles ist, egal, ob gewonnen oder nicht.“
Ihrer Person kommt man näher, falls das überhaupt möglich ist, wenn man sie nach den näheren Umständen der Vorentscheidung im Februar in Köln fragt. Sie erzählt: „Da hatte ich ein paar Kandidaten kennengelernt, einige waren aber unsympathisch vor mir aufgetreten. Das hat dieses Konkurrenzfeeling bei mir gesteigert, da wollte ich das wirklich. Und auch deshalb hat es mich wahnsinnig gefreut, nun zum ESC zu fahren. So krass!“
ESC 2016 – Das war's
Davon abgesehen, dass Jamie-Lee sehr wohl weiß, dass es in Stockholm am Samstag nicht um Ehre allein, sondern um Punkte und Platzierungen geht, ist es charmant, wie oft sie Worte wie „krass“ und „mega“ sagt. Das hört sich in ziemlich alten Ohren echt voll niedlich an, ehrlich gesagt. Man könnte ihrer Musik stundenlang zuhören, es ist ein sympathischer Gesang, der zugleich die Person nicht preisgibt. Das ist schon mal sehr hübsch deshalb, weil andere aus ihrer Branche gern ihr Herz ausschütten und das Gebot des Authentischen mit allzu viel Gehalt ausfüllen.
Niedlich und friedlich
Jamie-Lee Kriewitz sagt etwa zu ihren sehr bunten Kostümen und Looks, die Inspirationen habe sie aus Japan und Korea. Dort bestelle sie die Accessoires, da gebe es einschlägige bestens sortierte Online-Shops. Ein Style, sagt sie, der zu ihr passt. Soll er etwas bedeuten? „Es soll nicht verrückt aussehen, sondern niedlich. Dass es als verrückt empfunden wird, liegt natürlich daran, dass man es in Europa so nicht kennt.“ Niedlich also möchte sie wahrgenommen werden, das heißt für sie „friedlich“, weil die „Welt friedlich sein sollte“. Um gleich anzufügen, sie sei nicht politisch, aber wer als niedlich empfunden wird, erntet keine Aggressionen.
Das klingt nach einer defensiven Art. Etwa im Sinne von: Ich zeige mich, also tretet mir nicht zu nah. Andererseits hat sie ihre Prinzipien. Jamie-Lee ist Veganerin. Sie unterstützt die Tierrechtsorganisation Peta.
Auf das Thema wurde sie in einer offiziellen Pressekonferenz auf Englisch angesprochen. Sie betont, dass sie weder Pelze trage noch Textilien aus Wolle. Nur Baumwolle – das sei ja Wolle aus Pflanzen. Aber irgendwie scheinen manche Medienkollegen auch Tiere niedlich zu finden – und so wollen sie Jamie-Lee in Skansen, dem historischen Freiluftmuseum in Stockholm, im Tiergehege fotografieren.
Sehr vernehmlich, störrisch und leise zugleich, lehnt sie das strikt ab. Ist nicht bekannt, dass sie, die Veganerin, natürlich Zoos ablehnt, weil Tierparks Gefängnisse sind? Ja, da ist sie auf ihre schöne Weise konsequent. Nix Schmusi-Pusi-Lämmchen-Bildfutter, Jamie-Lee will offenbar nicht auf jede Weise gefallen.
Bitte nichts Privates
Okay, nun ist die Veganerei nicht gerade von gleicher politisch-moralischer Qualität wie Vermögensteuer oder Bildungsungerechtigkeit. Auf der anderen Seite: Für eine junge Frau wie diese Gymnasiastin ist sie es doch. Sie überlegt eben, gut so, wie sie leben möchte – und unter welchen Umständen.
Und zu diesen gehört auch, dass für die Geschichten über sie, weil sie nun einmal eine ESC-Kandidatin und „The Voice“-Siegerin ist, keine gehören, die ihr Privates, besser: ihr Familiäres bloßstellen. Bitte keine Homestorys, keine schmierigen Geschichten über ihr Leben in der Schule, keine Heckenschützenfotografen.
Ihr Vater war mal Punkmusiker, sie kennt also auch härteren, raueren Stoff als das, was sie mangamäßig mit ihrem „The Ghost“ nun zur Performance bringen wird. Ihre Familie ist normal, Jamie-Lee will das Abitur, wenn auch nicht gleich, weil die Show Dinge wie Klausuren und Hausaufgaben unmöglich zu erledigen macht. Nein, Privates will sie niemandem erzählen. Höchstens, dass sie sich als Atheistin bekennt, dass dies aber in ihrem Gospelchor keinen stört, weil es dort nur um Gesang geht, um Kommunikation von musikalisch Anspruchsvollstem.
Kein Bock mehr auf Emo
Nur die Ansprüche an sich möchten anerkannt werden: „Ich will zeigen, dass Deutschland nicht langweilig, sondern bunt, kreativ und frisch ist.“ Wobei sie auch sagt: „Das Komische ist, dass ich vor meinem jetzigen Stil zwar nicht auf Punk gegangen war, aber ein bisschen emo war. Ich war mit 13, 14 komplett schwarz angezogen. Mit Nietengürtel und Piercings im Gesicht, schwarz angemalt um die Augen, der Pony hing ins Gesicht, so dass man die Augen fast nicht mehr sehen konnte. Das wirkte rockiger, ein bisschen wilder. Ich bin schon immer gern den auffälligen Weg gegangen. Irgendwann hatte ich keinen Bock mehr auf Schwarz, sondern auf was Buntes.“
Sie sagt, keine Prognosen für das morgige Finale zu lesen. „Das zieht mich sonst so runter. Ich brauche nichts Negatives.“ Beiläufig hat sie mal erzählt, sehr am Wasser gebaut zu sein – sie weint, freut sie sich, ihr kommen die Tränen, wenn sie traurig ist. Allerdings: Bei Wetten rangiert „Ghost“ mit Jamie-Lee auf dem allerletzten Platz. Eigentlich ist das kaum zu glauben, denn ihr sphärisches Lied unterscheidet sich erheblich vom Bombast der meisten anderen Acts.
Immerhin: Auf Lena Meyer-Landrut, ESC-Siegerin von 2010, wird sie nicht mehr angesprochen. Als ob man sie schützen möchte: Bloß nicht die Latte zu hoch hängen. Aber sie ist mit jeder Probe besser geworden, sie findet mit ihren Blicken die Kameras mit dem roten Licht auf Anhieb. Sie kann sich steigern, sie liebt Konkurrenz – und das Publikum in Stockholm mochte das nette, fast schüchterne Lachen an ihr, das sie lacht, wenn sie wieder mal alle, auch die lautesten Töne getroffen hat. Dann ist sie ganz besonders niedlich und nah. Weshalb sollte ihr das nicht, wie bei „The Voice“ und der ESC-Vorentscheidung, sehr viele Punkte eintragen?
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