Europa-Rede von Bundeskanzler Scholz: Zeitenwende auf Europäisch
In einer Grundsatzrede stellt Kanzler Olaf Scholz seine Reformvorschläge für die EU vor. Fünf Jahre nach dem Vorstoß von Frankreichs Präsident Macron.
So entspannt war Olaf Scholz schon seit Längerem nicht mehr unterwegs. Er traf etwas zu früh in Prag ein, und sein Tross legte noch eine kleine Stadtrundfahrt ein auf dem Weg zur Karls-Universität. Dort waren die Sicherheitsvorschriften lässig – praktisch jeder kam ohne Kontrolle rein –, und auch die Stimmung schien gelöst.
Der deutsche Bundeskanzler ist in Tschechien ein gern gesehener Gast, vor allem seit er seine anfängliche Zurückhaltung in puncto Waffenlieferungen an die Ukraine aufgegeben hat. Und nun klappt auch endlich der lang angekündigte Ringtausch: Deutschland schickt 14 Leopard- und einen Büffel-Panzer nach Prag im Gegenzug zu den T-72, die Tschechien der Ukraine zur Verfügung gestellt hat.
Mit freundlichem Applaus empfängt ihn das Publikum in der Aula der Universität, darunter viele Studierende. Wie Maria zum Beispiel, die im zweiten Jahr an der humanistischen Fakultät studiert und aus Interesse an den großen Themen hier ist: am Krieg in der Ukraine und an der Zukunft der Europäischen Union. Scholz, so war es angekündigt, wollte die Zeitenwende, die er vor einem halben Jahr im Bundestag ausgerufen hatte, hier europäisch ausbuchstabieren.
Eine Universität als Bühne, um große Ideen zur europäischen Zukunft auszubreiten – dieses Setting wählte auch der damals frisch ins Amt gekommene französische Präsident Emmanuel Macron, als er 2017 vor Studierenden der Sorbonne für ein starkes, souveränes Europa warb und für ein europäisches Finanzministerium. Die damalige Kanzlerin hüllte sich in freundliches Schweigen, Macrons Initiative verpuffte.
Die Reihen schließen
Die deutsche Antwort auf Macrons Rede kommt nun, fünf Jahre später und unter dem Druck der äußeren Verhältnisse: Russland hat einen Krieg gegen seinen Nachbarn angezettelt, hat die europäische Nachkriegsordnung inklusive Achtung der territorialen Integrität aufgekündigt, und der Westen schließt die Reihen gegen den gemeinsamen Feind. Eine starke und souveräne EU ist gefragt wie nie.
Dieses Bedürfnis ruft Scholz in Prag ab: „Wir müssen die Reihen schließen, alte Konflikte überwinden“, sagt Scholz in der Aula der ältesten Uni nördlich der Alpen. Er beschwört die EU als Wertegemeinschaft, die es zu verteidigen gilt gegenüber einem autoritären, imperialistischen Russland.
Man werde die Ukraine wirtschaftlich, finanziell und militärisch weiterhin unterstützen, verspricht der Kanzler denn auch. „Verlässlich und vor allem: so lange wie nötig.“ Bei der militärischen Unterstützung wirbt er für mehr Absprache und für Arbeitsteilung unter den EU-Ländern; schlägt einen Rat der Europäischen Verteidigungsminister vor; oder die gemeinsame Beschaffung von Rüstungsgütern. Bislang folgt das Beschaffungswesen in allen europäischen Ländern den Bedürfnissen der heimischen Rüstungswirtschaft.
Und apropos Arbeitsteilung: Er könne sich vorstellen, dass Deutschland sich insbesondere auf den Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung konzentriere, sagt Scholz und kündigt an, dass „wir in Deutschland in den kommenden Jahren ganz erheblich in unsere Luftverteidigung investieren“ werden.
Ein europäisches Silicon Valley
Wunde Punkte der Vergangenheit wie die Migrations- und Finanzpolitik, tippt Scholz ebenfalls an, mahnt mehr Pragmatismus und weniger Ideologie an. Das kann man durchaus auch als deutsche Selbstkritik verstehen.
Scholz wirbt auch für mehr wirtschaftliche Kooperation in der ursprünglich als Wirtschaftsgemeinschaft gegründeten Union. Es brauche ein Update des europäischen Binnenmarktes, sagt Scholz und ruft eine Art europäisches Silicon Valley aus. „Ich möchte ein Europa, das Vorreiter ist bei wichtigen Schlüsseltechnologien“, sagt Scholz und wirft gar die kühne Idee einer wettbewerbsfähigen europäischen Raumfahrt auf. So richtig ab heben die vielen jungen Zuschauer:innen im Saal bei seinen Worten nicht, was auch daran liegen mag, dass Scholz seine hochfliegenden Pläne vom Blatt abliest.
Dort findet sich immerhin auch die Antwort auf die europapolitischen Vorschläge Macrons. Einen Verfassungskonvent einberufen und die europäischen Verträge überarbeiten? „Verträge sind nicht in Stein gemeißelt“, antwortet Scholz konziliant, freilich müsse man sich konkret anschauen, was geändert werden müsse.
Macrons Idee einer europäischen politischen Gemeinschaft, also einer Art EU plus Freunde, begrüßt Scholz. Macht aber auch seine Skepsis deutlich: Das dürfe für beitrittswillige Länder keine Alternative zum eigentlichen Beitritt sein. Scholz spricht sich erneut dafür aus, die sechs Westbalkanländer, die seit Jahren in der Warteschleife hängen, in die EU zu lassen und perspektivisch auch die Ukraine, Moldau und Georgien.
Kafkaeskes Europa
Eine Erweiterung der EU geht nach Auffassung des Deutschen aber nicht ohne Reformen im Innern, wie er schon öfter gesagt hat. Neben einigen neuen Gedanken – im Bereich der Kommissariate schlägt Scholz das Prinzip der Doppelspitze vor, um deren Zahl nicht ins Unendliche auszuweiten – bekräftigt Scholz bereits Gesagtes und im Koalitionsvertrag Vereinbartes und warnt in diesem Zusammenhang, bezugnehmend auf „einen großen Sohn dieser Stadt“, vor „kafkaesken Verhältnissen“.
So will er, das derzeit geltende Einstimmigkeitsprinzip unter den 27 Mitgliedern aufweichen, um schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen. Man könne ja zunächst in den Bereichen beginnen, wo es darauf ankomme, als Europa mit einer Stimme zu sprechen, schlägt Scholz vor, etwa in Fragen der Sanktionspolitik.
Premier Petr Fiala erteilt diesem Vorstoß anschließend eine höfliche, aber eindeutige Absage. „Wir wehren uns gegen solche Debatte nicht, aber sind sehr zurückhaltend.“ Man sieht als kleines, gerade mal zehn Millionen Einwohner zählendes Mitgliedsland eigene Interessen gefährdet.
Dass Scholz aber gerade die Sanktionspolitik als Türöffner für Reformen vorschlägt, ist schlau. „Viele wollen, dass die EU auf Russland noch mehr Druck macht“, berichtet Studentin Maria. Sie findet Scholz’ Rede großartig, das seien Gedanken, die alle hören sollten, sagt sie. Mila, die hinter ihr sitzt und gerade eine Weiterbildung im Bereich Steuerung sozialer Organisationen macht, vermisst Vorschläge zu aktuellen Themen. „Wie die europäische Solidarität im Bereich Energie aussieht, hätte ich gern erfahren“, sagt sie. Auch in Tschechien mache man sich Gedanken, wie man im kalten Winter heizen solle, wenn die Preise stiegen.
Tschechien will was vom Flüssiggas abhaben
Um die hohen Energiepreise geht es beim anschließenden Treffen mit Petr Fiala. „Wir stimmen überein, dass wir nach gesamteuropäischer Lösung suchen müssen“, so Fiala. Er wolle dieses Thema zu einem Schwerpunkt der europäischen Ratspräsidentschaft machen, hatte am Vormittag darüber auch mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesprochen.
Demnächst wollen sich die europäischen Energieminister dazu auch in Brüssel treffen. Auch Scholz versichert, dass es darum gehen müsse, den europäischen Strommarkt zu reformieren, damit die Preise wieder sinken. Ob durch einen Gaspreisdeckel oder andere Instrumente, darauf ging er auch auf Nachfrage nicht ein.
Konkrete Solidarität forderte der tschechische Ministerpräsident von Deutschland beim Flüssiggas ein. Tschechien wolle sich am Bau der Terminals in Lubmin und Greifswald beteiligen, sprich etwas abhaben vom Flüssiggas. Scholz verspricht das. „Das sind Infrastrukturen, die wir nicht nur für uns bauen, sondern auch für unsere Freunde, die keine Küstenlinie haben.“ Er nickt Fiala aufmunternd zu. Der steht im eigenen Land unter Druck und kann mit Scholz’ Besuch nun auch innenpolitisch punkten.
Wieso sollte Tschechien also weitere Zugeständnisse machen? Deutschland hält von dem Vorstoß, keine EU-Visa mehr an russische Bürger:innen auszuhändigen, wenig, doch Tschechien bleibt hart. Es sei der russische Präsident, der den Krieg angezettelt habe, so Scholz.
Es gibt also viele Themen, die auf der EU-Außenministerkonferenz in den nächsten Tagen hier in Prag besprochen werden. Scholz’ Rede dürfte nicht dazugehören. Fiala befürchtet, dass eine schwierige Debatte die neu gewonnene Einigkeit wieder zerstören könnte.
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