Ethikrätin über Relevanz von Bioethik: „Alles soll zur Verfügung stehen“
Spielt Bioethik heute keine große Rolle mehr? Sigrid Graumann sitzt im Deutschen Ethikrat und bedauert, dass viele aktuelle Fragen aus dem Blickfeld geraten sind.
taz: Seit einem Jahr sind Frauen wieder auf der Straße, um gegen den §219a und letztlich auch gegen den §218 zu demonstrieren. Das gab es schon einmal in den 1970er Jahren im Westen und gesamtdeutsch in den 1990ern. Haben sich die Verhältnisse verändert oder haben sich Frauen zu sehr auf die scheinbar befriedeten Verhältnisse nach dem BVG-Urteil 1993 verlassen?
Sigrid Graumann: In der alten Kontroverse Selbstbestimmungsrecht der Frau und der Schutzwürdigkeit ungeborenen Lebens ging es immer auch um die Rolle der Frau in der Gesellschaft. Geändert hat sich, dass sich die konservativen Kreise, die sich auf das Schutzkonzept beziehen, die aber letztlich die alten Geschlechterrollen restaurieren wollen, nicht mehr direkt auf den §218 abzielen, sondern versuchen, über Randthemen Boden gut zu machen. Eines dieser Themen ist das Werbungsverbot nach §219a.
Mir fällt bei den Aktionen auf, dass die jungen Frauen ganz selbstverständlich wieder mit Parolen wie „Mein Bauch gehört mir“ oder „mein Uterus – meine Entscheidung“ auftreten, also auf ein völlig unhinterfragtes Selbstbestimmungsrecht rekurrieren. Wie sehen Sie das als Ethikrätin, die seit vielen Jahrzehnten in bioethische Debatten involviert ist?
Ich unterrichte junge Studierende in Ethik, und der Schwangerschaftsabbruch ist dabei immer ein Thema. Mein Eindruck ist, dass wir es mit einer starken Individualisierung von moralischer Urteilsbildung zu tun haben. Viele junge Frauen sagen, dass für sie selbst eine Abtreibung nicht infrage kommen würde, finden gleichzeitig das Abtreibungsverbot aber völlig unverständlich. Während man in meiner Generation sagte, wann ich ein Kind bekomme, bestimme ich alleine, empfinden die jungen Frauen den Schwangerschaftsabbruch als tiefgreifende moralische Frage, die sie aber für sich selbst entscheiden wollen. Das ist das eine.
Auf der anderen Seite wird das Selbstbestimmungsrecht mit großer Selbstverständlichkeit auf viele andere Bereiche ausgedehnt, wie Pränataldiagnostik, Eizellspende oder sogar Leihmutterschaft. Alles soll zur Verfügung stehen, um höchst individuell auswählen und entscheiden zu können. Wir haben es also nicht mehr mit Selbstbestimmung als Abwehrrecht gegenüber dem Staat zu tun, sondern es setzt sich zunehmend ein Anspruchsrecht auf ein eigenes, gesundes Kind durch, und zwar unter Rückgriff auf alle medizinischen Möglichkeiten und ohne die Betroffenheit Dritter, wie etwa der Eizellspenderinnen, zu bedenken …
… oder im Falle des Bluttests auf behinderte Menschen …
… genau, auch ob ich ein behindertes Kind haben will oder nicht, wird zur persönlichen moralischen Entscheidung.
Im Jahr 2000 hat die damalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer einen legendären Fortpflanzungsmedizinkongress organisiert. Nie mehr seither ist der Diskurs zwischen Fachwissenschaft und engagierter frauenpolitischer Öffentlichkeit so intensiv geführt worden. Spielt Bioethik heute keine relevante Rolle mehr?
Am 8. März veröffentlichen wir auf taz.de nur Beiträge von Frauen* und nicht-binären Menschen, und auch nur diese kommen darin vor: als Expert*innen, als Protagonist*innen, auf den Fotos. Trotzdem beschäftigen wir uns nicht primär mit dem, was im allgemeinen Sprachgebrauch gern als „Frauenthemen“ bezeichnet wird – sondern mit dem Tagesgeschehen.
Ende der 90er Jahre gab es eine Hochphase des bioethischen Diskurses: nach den langen Diskussionen um das Embryonenschutzgesetz wurde um Präimplantationsdiagnostik, Stammzellgesetz, Klonverbot usw. gerungen. Fischer hatte eine gewisse Sympathie für die damals starken frauengesundheitspolitischen Positionen in der Debatte, die aber eher sozialethisch motiviert war: Was bedeutet die Institutionalisierung bestimmter reproduktiver Methoden und vorgeburtlicher Maßnahmen, wie wirkt sich die zunehmende Ökonomisierung solcher Gesundheitsleistungen aus?
Die Anbieterseite, die sich immer für die Etablierung und Ausweitung solcher Verfahren eingesetzt hat, argumentiert rein individualethisch mit Einzelfallproblematiken und dem Recht auf ein eigenes, gesundes Kind, bestreitet jedoch problematische gesellschaftliche Auswirkungen. Diese Seite hat sich inzwischen weitgehend durchgesetzt. Und man muss sehen, wer eine Kinderwunschpraxis betreibt und für die Zulassung der Eizellspende streitet, hat geschäftsmäßige Interessen. Es ist etwas völlig anderes, wenn gesellschaftliche Bedenken vorgetragen werden.
Sie sind seit 2016 von den Grünen berufene Ethikrätin und sagen selbst, dass Sie sich die Entscheidung nicht leichtgemacht haben. Im Rat sitzen ziemlich unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen ethischen Vorstellungen und Haltungen. Wie geht man in der Tagesarbeit damit um?
Es gibt bei manchen Themen, die wir entweder von außen angetragen bekommen oder selbst auf die Tagesordnung setzen, kontroverse und harte Diskussionen. Es ist aber auch möglich, Minderheitenpositionen zur Geltung zu bringen.
… in Form der berühmten Sondervoten …
Ja, auch durch Sondervoten. Ich habe bisher nie eines abgegeben, weil ich mich mit meinen Positionen in den Stellungnahmen wiederfinden konnte, auch wenn man dabei Kompromisse machen muss, das gehört dazu.
geboren 1962, ist Rektorin an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum und seit 2016 Mitglied des Deutschen Ethikrats. Die Biologin und Philosophin promovierte über somatische Gentherapie und über menschrechtsethische Fragen der UN-Behindertenkonvention. Heute arbeitet sie schwerpunktmäßig über biomedizinische und sozialethische Fragen in Zusammenhang mit Schwangerschaft und Behinderung und zur Professionsethik sozialer Berufe. 2009 wurde sie mit dem Preis der Lehre der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg ausgezeichnet.
Sie haben im Rat zuletzt federführend an einer Stellungnahme zu Zwangsmaßnahmen in professionellen Sorgebeziehungen gearbeitet, eine sehr komplizierte Materie, die Differenzierung verlangt. Haben Sie das Gefühl, Ihre Anliegen in der Öffentlichkeit wirklich vermitteln zu können?
Es ging in der Stellungnahme um die Vermeidung von Zwangsmaßnahmen in drei große Bereichen, der Psychiatrie, der Kinder- und Jugendhilfe und der Pflege. Am stärksten hat die Psychiatrie reagiert, weil sie aufgrund von aktuellen Gerichtsentscheidungen und Gesetzesänderungen sehr sensibilisiert dafür ist und sich viele Einrichtungen bemühen, Zwang zu vermeiden. In der Kinder- und Jugendhilfe wird eher in der Fachöffentlichkeit diskutiert, und am wenigsten kam unsere Stellungnahme wohl im Bereich Pflege an. Das ist erstaunlich, weil die Pflege im Moment ja durchaus im Fokus steht, aber unter anderen Aspekten. Aber Sie haben recht, die großen Medien haben auf das Thema nicht reagiert.
Woran arbeitet der Ethikrat aktuell?
Aktuell arbeiten wir an einer kleinen Stellungnahme zu Fragen des Impfens …
… ein angesichts der militanten Impfkritiker äußerst vermintes Feld …
… ja, nach der Anhörung stellen sich Fragen doch komplexer dar, als zuvor gedacht wurde. Außerdem bereiten wir eine Stellungnahme zu Keimbahnveränderungen am Menschen vor
Es geht um die mittels Genschere veränderbare Keimbahn des Menschen, wie sie kürzlich in China durchgeführt wurde, um bei einem Kind HIV zu verhindern. Ist das Thema angesichts der ablehnenden Haltung hierzulande überhaupt relevant?
Zunächst muss man sehen, dass es bei der Keimbahnintervention nicht um die Entwicklung und das Angebot von Therapien an geborenen Menschen geht, sondern um eine Technik, die im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation angewendet werden soll. Es sollen also im Labor Embryonen gezeugt und genetisch verändert werden. Meines Erachtens ist es aber weder sinnvoll noch ethisch vertretbar, diese Technik überhaupt zu entwickeln. Die Patientengruppe, die für die klinische Anwendung im Blick ist, Patienten mit monogenetischen Erkrankungen wie Mukoviszidose oder Chorea Huntington, ist sehr klein und könnte nach geltender Rechtslage die PID in Anspruch nehmen.
Eine Ausnahme wäre der extrem seltene Fall eines Paares, in dem Frau und Mann von Mukoviszidose betroffen und nicht so schwer krank sind, sodass eine Elternschaft infrage kommt. Sie könnten auch mit PID kein gesundes Kind zeugen, aber mit einer Samenspende. Gegen die Keimbahnintervention sprechen die unabsehbaren Risiken für die Kinder und deren Nachkommen. Alle anderen Ideen der Anwendung, etwa durch Schutzfaktoren das Risiko für multifaktorielle Krankheiten wie Krebs oder HIV zu verringern, mehrere Gene oder komplexe Eigenschaften zu verändern, machen wenig Sinn, weil das Zusammenspiel von Genen und Umweltfaktoren viel zu komplex ist, um gezielt und mit einem akzeptablen Risiko einzugreifen.
Die vorhin erwähnte Andrea Fischer wollte schon vor fast 20 Jahren ein Fortpflanzungsmedizingesetz auf den Weg bringen. Das steht bis heute aus, es gibt aber Vorstöße seitens Wissenschaftsakademien wie der Leopoldina. Brauchen wir ein modernes Fortpflanzungsmedizingesetz?
Frauen, die bewegen
Bei dem um die Jahrtausendwende diskutierten Fortpflanzungsmedizingesetz ging es um die Regelung des gesamten Feldes, also nicht nur um Embryonenforschung, Eizellspende usw., sondern um Qualitäts- und Beratungsstandards, also den gesamten Kontext der In-vitro-Fertilisation. Bei den späteren einzelnen Gesetzesinitiativen sollten bestimmte Verfahren wie etwa die PID liberalisiert werden, was ja auch gelungen ist. Momentan machen sich Fortpflanzungsmediziner für die Eizellspende stark. Ich weiß, dass in der Leopoldina an einer Stellungnahme für ein Fortpflanzungsmedizingesetz gearbeitet wird, aber eine Wissenschaftsgesellschaft ist meines Erachtens nicht der richtige Agent, um das auf den Weg zu bringen. Dafür bräuchten wir eine breite und kontroverse gesellschaftliche Debatte.
Für die es, wir hatten es schon, momentan kein großes Interesse gibt …
Das stimmt, im Moment werden andere Themen diskutiert, internationale Konflikte, die Krise des demokratischen Systems, Rechtsextremismus … dabei geraten bioethische Fragen dann leicht aus dem Blickfeld. Ich würde mir von der Politik wünschen, die öffentliche Diskussion über bioethische Fragen unter Beteiligung aller davon Betroffenen zu fördern, denn es geht dabei ja nicht nur um konkrete Verfahren und Gesetze, sondern auch um Rollenerwartungen und gesellschaftliche Werte, die sich verändern.
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