Essays von Jean Améry zu Antisemitismus: Den Toten die Treue halten
Der große Essayist Jean Améry hatte ein genaues Gespür dafür, wann Antizionismus in Antisemitismus umschlägt. Seine Essays sind leider wieder aktuell.
Der 7. Oktober mag ein trauriger Anlass sein, eine kleine Auswahl von Artikeln Jean Amérys über sein Judentum und den Antisemitismus in der Linken neu aufzulegen. Aber das schmale Bändchen mit dem Titel „Der neue Antisemitismus“ macht in den seither gegen Israel ins Feld geführten Argumenten – wenn man sie denn so nennen mag, handelt es sich doch viel mehr um Vorwürfe und Hass –, eines deutlich: Nämlich, dass mit ähnlicher Vehemenz bereits 1969 und in den folgenden Siebzigerjahren das Existenzrecht Israels bestritten wurde.
Das war für Améry unerträglich, musste Israel doch vor dem „finsteren Hintergrund der Katastrophe“, vor dem Hintergrund sechs Millionen ermordeter Juden, gesehen werden. Israel sollte der „siebten Million“, wie der Historiker Tom Segev die Überlebenden nannte, ein sicherer Zufluchtsort sein.
Das war für Améry eine unbestreitbare Selbstverständlichkeit. Nicht aber für diejenigen, denen er sich eigentlich zugehörig fühlte, der Linken, die damals begann, von „nationaler Identität“ zu reden und die PLO für eine nationale Befreiungsbewegung gegen den israelischen Imperialismus zu halten.
Jean Améry: „Der neue Antisemitismus“. Klett Cotta, Stuttgart 2024, 128 Seiten, 18 Euro
Améry erinnert in seinem Essay daran, dass die Juden – und gerade sie – „ein Element der fruchtbaren Unordnung“ seien. Es seien die Arbeiten der Frankfurter Schule gewesen, später die „Sartrianer“, die Strukturalisten, die „liberals“ in den USA, die immer wieder „versteinerte Strukturen“ aufgebrochen hätten.
Jean Améry: „Der neue Antisemitismus“. Klett Cotta, Stuttgart 2024, 128 Seiten, 18 Euro
Der rabiate Antizionismus
Zudem habe es nie einen Zweifel daran gegeben, dass die jüdischen Siedler eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft errichten wollten. „Es kann nicht, darf nicht sein“, schreibt Jean Améry fordernd und eindringlich, „dass die Nachfahren der Heine und Börne, der Marx und Rosa Luxemburg, Erich Mühsam, Gustav Landauer es sind, die den ehrbaren Antisemitismus verbreiten, denn in den Antisemitismus mündet notwendigerweise der rabiate Antizionismus ein, der für jeden Juden, wo immer er wohne, welch politischer Meinung er anhänge, eine tödliche Drohung ist.“
Der Bezug auf die Säulenheiligen der damals jungen Linken aber verpufft, denn die Katastrophe, die erst noch kommen sollte, konnte niemand von ihnen vorhersehen. 1969 aber war Auschwitz noch nicht lange her, und es war nicht schwer, sich vorzustellen, was sein würde, wenn Israel zerstört werden würde, denn das hieße, die Juden würden wieder zu „Wanderjuden“, zu staatenlosen und damit rechtlosen Flüchtlingen, die als Bittsteller behandelt würden oder als „Paria“, als die Hannah Arendt sie bezeichnete.
Ein solcher war auch der 1912 geborene Hans Mayer, wie Jean Améry ursprünglich hieß, bevor er seine verhasste österreichische Herkunft nach dem Krieg in einem Anagramm unkenntlich machte. In einem kurzen Aufsatz von 1978 mit dem Titel „Mein Judentum“ beschreibt er, dass seine Sozialisation nicht das Geringste mit dem Judentum zu tun hatte. Sein Vater war „Volljude“, der im Ersten Weltkrieg fiel, als er vier war. Seine Mutter war Christin, das heißt, dem Judentum zufolge war Améry gar kein Jude, aber die nationalsozialistischen Rassegesetze machten ihn zu einem.
Obwohl er mit der jüdischen Religion nie etwas zu tun hatte und auch nie etwas zu tun haben wollte, wurde ihm bereits als Jugendlicher durch die Lektüre von „Mein Kampf“ und der „Nürnberger Rassegesetze“ klar, dass er einer „minderwertigen Rasse“ angehörte, und zwar nicht nur für die Nazis, sondern auch „für die Mehrheit aller Deutschen und Österreicher“. Ein Jude ist, den die anderen als Juden ansehen, schrieb Sartre, und „dies war präzise mein Fall“, so Améry.
Für Israel, gegen Mosche Dajan
Dennoch hat die zwangsweise Zuordnung zum Judentum Améry nie dazu gebracht, dieses Schicksal anzunehmen – weder wollte er in diesem Land leben, noch hieß er „den religiös getönten Nationalismus“ in Israel gut, und Mosche Dajans triumphales Auftreten war ihm zuwider. Und dennoch war er aus seiner Erfahrung heraus „den Menschen dieser heillosen Erde, die allein sind, verlassen von der Welt, unablösbar verbunden“.
Israel war für ihn keine Verheißung, und als Heiliges Land hatte es für ihn keine Bedeutung, es ist „nur Sammelplatz von Überlebenden, ein Staatsgebilde, wo jeder einzelne Einwohner noch immer und auf lange Zeit hin um seine physische Existenz bangen muss“. Etwas pathetisch, aber durchaus ergreifend, fügt er hinzu: „Mit Israel solidarisch sein, heißt für mich, den toten Kameraden die Treue bewahren.“
Seitdem er 1969 für Israel Partei ergriffen hatte, betrachteten ihn seine politischen Freunde als „Abtrünnigen“. Er wirft ihnen vor, es sich mit Prinzipientreue leicht zu machen und nicht bereit zu sein, ihre „Dogmen-Krücken“ über Bord zu werfen. Er hingegen hat nicht die Möglichkeit, sich an diesen festzuhalten, denn für die einen ist er ein Jude, der parteiisch ist, während die anderen, die ein Judentum haben, ihm das Recht absprechen, sich einzumischen. Und warum sollten sie auch auf ihn hören?
Améry beschreibt seine Gemütslage als die eines Melancholikers. Es ist eine ausweglose Situation, denn er spürt, dass seine bedingungslose Solidarität mit Israel als sicherem Zufluchtsort auch heißt, mit dem menschlichen Leid konfrontiert zu werden, das das Staatsgebilde Israel für andere bedeutet.
Noch immer ein Zufluchtsort
Und das ist vielleicht das Großartige an Amérys kurzen Reden und Aufsätzen, denn sie erinnern daran, wie weit entfernt sie von der selbstsicheren Gewissheit sind, mit der ein leider großer Teil der internationalen Linken nach dem 7. Oktober Vorwürfe gegen Israel erhebt, weil für sie alles im Vorherein feststeht, und noch immer vollkommen außer Acht lässt, dass Israel noch immer ein Zufluchtsort für die in der Welt verfolgten Juden ist.
Jenen ist der „schwankende Grund“, auf dem Améry steht, und die Ungewissheit, die ihn quält, fremd.
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