Essay zur Zukunft der EU: Der Europäische Frühling ist nah
Die EU ist wieder beliebter – nicht trotz, sondern wegen Brexit und Trump. Und ein neuer Hoffnungsträger ist aufgetaucht.
Wer das Kartenhaus Europa schon einstürzen sah, mag Hoffnung schöpfen: Die EU-feindliche Stimmung ebbt ab, in den meisten Ländern stößt die Union heute auf mehr Zustimmung als vor einem Jahr.
Demoskopen führen diese Entwicklung auf die Wahrnehmung des Brexit zurück. Anders als befürchtet und von vielen nationalistischen Großmäulern angekündigt hat er andernorts die Exit-Neigung nicht gestärkt und beschleunigt. Vielmehr hat das unwürdige und stümperhafte Schauspiel, das die Leave-Campaigner Nigel Farage und Boris Johnson gaben und nun die Regierung von Theresa May aufführt, Bedenken gegen einen Austritt verstärkt. Einen solchen kann man zwar forsch fordern, die Realisierung ist aber extrem mühsam und birgt gewaltige Unwägbarkeiten in sich. Ob May einen realistischen Plan hat, muss sich auch nach ihrer Grundsatzrede erst noch zeigen.
Viele austrittswillige Engländer begreifen, dass sie sich in den Fuß geschossen haben: Erst haben sie sich von Scharlatanen dreist belügen lassen, nun geht ihnen allmählich auf, dass ihr Bauchvotum nicht nur das Vereinigte Königreich, seine Regionen und Generationen spaltet, sondern auch ihre eigene Zukunft aufs Spiel setzt.
Eine ähnliche Wirkung dürfte die Wahl Donald Trumps zum Präsidenten der Vereinigten Staaten zeitigen. Von ihm wurde bisweilen erwartet, er würde mit seinem Überraschungserfolg europäischen Nationalisten Auftrieb geben, zumal seine Positionen dem europäischen Faschismus viel näher stehen als dem US-amerikanischen Konservatismus und Populismus.
Doch statt hiesigen Nationalisten Auftrieb zu geben, löst die Eroberung des Weißen Hauses durch seinen Clan in Europa Befürchtungen aus. Aus gutem Grund, und so wächst das Risikobewusstsein gegenüber Hasardeuren wie dem bedrohlich-fulminanten President-elect, dessen Regierungshandeln ein einziges Chaos zu werden droht. Er setzt die Architektur der westlichen Bündnisse aufs Spiel und damit die Sicherheitsinteressen der Europäer. Er verordnet der Weltwirtschaft eine riskante Rosskur, und wie auch immer er sich zu Putin positioniert, als Buddy oder Opponent, es wird für die EU nicht gut sein.
Ein Blick in die Niederlande und nach Frankreich
Auch in anderen rechtspopulistischen Strömungen gibt es politische Unternehmer, deren Projekte pleiteanfällig sind. Aber unter ihren potenziellen Wählern sind eben auch ordnungsliebende Menschen, für die der Euro noch hundert Cent hat. Was ebenso zu größerer Vorsicht bei der Stimmabgabe führen könnte, ist der Angriff machtgieriger Autokraten wie Viktor Orbán, Wladimir Putin und Recep Tayyip Erdoğan auf die Fundamente ihrer Gesellschaften. Gerade für die Mittelschichten muss auch diese selbstzerstörerische Willkür abschreckend sein.
Schauen wir genauer auf jene Rechtsparteien in Europa, die in den nächsten Monaten an die Macht drängen: Geert Wilders möchte bei den Wahlen in den Niederlanden im März seine Freiheitspartei PVV zur stärksten Fraktion in Den Haag machen, Marine Le Pen will im Mai in den Élysée-Palast einziehen. Niemand sollte unterschätzen, was ihr Erfolg in zwei Gründungs- und Kernländern für die Zukunft der Europäischen Union bedeuten würde. Die PVV liegt in (unsicheren) Umfragen vorn und könnte 35 von 150 Sitze erringen, was Ausdruck einer beachtlichen Islamfurcht in den Niederlanden ist, aber keine Basis für eine Regierungsübernahme. Und es reicht erst recht nicht für den Nexit, der sich nach der Volksabstimmung gegen das EU-Assoziierungsabkommen mit der Ukraine im April 2016 anzukündigen schien.
In Frankreich spricht auch nicht mehr viel für den Erfolg eines Frexit, denn es scheint, als sei die Institution Europa am Ende doch stärker als die Protestenergie der Antieuropäerin. Marine Le Pen ist angesichts des Brexit bereits deutlich zurückgerudert; immer noch will sie den Euro abschaffen, spricht aber nun von seinem Vorläufer „Ecu“. Über zwei Drittel der Franzosen möchten EU-Mitglied bleiben, mehr als noch im letzten Jahr. Offensichtlich plant der Front National nun, in der EU nach der Methode Margaret Thatchers am Verhandlungstisch bessere Bedingungen zu erzielen. Die großen Sympathien von Le Pen wie Fillon für Russland sind davon unbenommen.
In Frankreich zeigt sich nun auch, wie wichtig das Auftreten eines dezidiert proeuropäischen Gegenspielers ist, der dort in Gestalt von Emmanuel Macron aufgetaucht ist. In Umfragen liegt der Sozialliberale derzeit auf Rang drei hinter den Kandidaten der Rechten, Fillon und Le Pen, aber nicht abgeschlagen. Der erste Wahlgang findet Ende April statt – in der Politik eine Ewigkeit –, und Macron holt spürbar auf und wird lagerübergreifend zu einem veritablen Hoffnungsträger. Er präsentiert nicht nur ein konsequent supranationales Programm für Frankreich, er hat auch frische Argumente, eine anschauliche Sprache und eine entschiedene Körpersprache – alles, was François Hollande zuletzt abging und man bei fast allen Sozialdemokraten in Europa vermisst.
Über 80 Prozent der Deutschen wollen die EU
Damit sind wir bei der überfälligen Gegenoffensive. Bundeskanzler Christian Kern hat es Macron kürzlich in einer Rede nachzutun versucht, als er für ein grünes (und sicheres) Europa plädierte. In Österreich, als Einfallstor der Antieuropäer angesehen, hat das Rennen gegen die Freiheitlichen kein Sozialdemokrat, sondern bekanntlich ein dezidiert europäischer Grüner gewonnen – zwei Drittel der Wähler haben Alexander van der Bellen im Dezember 2016 gewählt, weil er so entschieden in der EU bleiben will.
In Deutschland hat die AfD mit ihrer ohnehin schwammigen Distanzierung von Brüssel erst recht keinen Erfolg – heute sind über 80 Prozent der Deutschen für den Verbleib in der EU, vor zwei Jahren waren es weniger als zwei Drittel. Die AfD muss wohl einsehen, dass sie nicht für „das“ Volk sprechen kann.
Auch nicht Beppe Grillo, Chef der Fünf-Sterne-Bewegung, für Italien: Er hat demonstriert, dass der Opportunismus bei den Nationalisten im Zweifel sehr viel stärker ist als die weltanschauliche Gegnerschaft zur EU und der Wunsch nach ihrer Zerstörung. Nach seinem gescheiterten Versuch, beim liberalen Proeuropäer Guy Verhofstadt anzudocken, ist er reumütig zu den EU-Verneinern um Nigel Farage zurückgekehrt. Diese Eskapade dürfte der Anfang vom Ende des überschätzten Politclowns sein.
Entwarnung kann freilich nicht gegeben werden. Noch ist kein europäischer Frühling eingekehrt, die völkisch-autoritäre Rechte ist kein Papiertiger, und sie fängt viele Energien gegen Europa auf, die beispielsweise Kommissare wie Günther Oettinger in ihrer Arroganz täglich nähren. Besonders beunruhigend ist dabei, dass Marine Le Pen die Hälfte der französischen Arbeiter hinter sich weiß.
Auch bleibt den doppelt Frustrierten, die sich erst vom Establishment getäuscht fühlten und nun von den neuen Volkstribunen enttäuscht werden, für die Abfuhr ihrer Wut aus ihrer Sicht nichts als blanker Fremdenhass, der in England erschreckende Ausmaße angenommen hat, ebenso in Polen, und Deutschland ist bekanntlich davon nicht ausgenommen.
Ein Licht am Ende des Tunnels
All das ist Anstoß genug, sich wieder stärker für die Europäische Union zu engagieren und ihre Grundsätze und Vorteile selbstbewusster und offensiver zu benennen. Emmanuel Macron ist insofern nicht nur ein französischer Hoffnungsträger, sondern ein Licht am Ende des Tunnels für ganz Europa. Auch in Deutschland sollte sein Weg aufmerksam verfolgt und als belebendes Element deutscher Innenpolitik gestützt werden. Er vor allem würde die deutsch-französische Allianz bewahren und erneuern, und er könnte es auf eine Weise tun, die zugleich aus den in beiden Ländern steril gewordenen Rechts-links-Konfrontationen heraushilft.
Denn nicht nur der Konsens über die Normen und Institutionen Europas ist mehrheitsfähig, auch die Prinzipien von Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Teilhabe, die im Übrigen, anders als es die Antieuropäer unterstellen, nur noch in europäischer und globaler Kooperation zu haben sind. Diese Erneuerungsallianz ist keine Staatsangelegenheit in Berlin und Paris und kein exklusives Kleineuropa. Sie wird nur blühen, wenn alle europäischen Kräfte sich so eng zusammenschließen wie in der Gründungsphase der Europäischen Gemeinschaft. Dann kann aus dieser „Praxis Europa“ gegen alle Erwartungen eine Neugründung Europas erwachsen.
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