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Essay Grüne in EuropaRenaissance statt Schmusekurs

Gastkommentar von Claus Leggewie und Daniel Cohn-Bendit

Die Grünen sind vor Jahren angetreten, für eine bessere Welt zu kämpfen. Das geht derzeit am ehesten mit den Liberalen.

Die Grünen erlangten 1979 noch keinen Sitz im EU-Parlament – 2009 erreichten sie 12,1 Prozent Foto: dpa

V or vierzig Jahren begann der parlamentarische Durchbruch der grünen Bewegung. 1979 hatten sich Joseph Beuys und Rudi Dutschke aus unterschiedlichen Richtungen den grün-alternativen Listen zugeordnet. Beuys, der sich zehn Jahre zuvor für direkte Demokratie eingesetzt hatte, entwarf ein Plakat für den Wahlkampf, auf dem ein kleiner Plastiksoldat auf einen größeren Hasen zielt, den „Unbesiegbaren“, wie unten rechts vermerkt war.

Der Hase war Beuys’ Tiersymbol der Erneuerung des Lebens gegen die Welt des Krieges, die mit der Nachrüstung atomar bestückter Mittelstreckenraketen gerade eine neue Aktualität bekam. Beuys erklärte sein Engagement so: „Ich kandidiere für sie, denn nur die Grünen in aller Welt wollen mir ihren schöpferischen Kräften eine wirkliche Neugestaltung des Lebens bewirken.“

Eine Stimme für die Grünen sei eine Stimme, die die Wähler „sich selbst für eine bessere Welt geben“ – ganz im Sinne des erweiterten Kunstbegriffs, den Beuys bei den Documenta-Ausstellungen der 1970er Jahre proklamiert hatte.

Zugleich waren die Alternativen 1979 eine heterogene Versammlung, deren politische Farben von mattbraun bis tiefrot reichten; Radikalpazifisten, Naturschützer, Esoteriker, Atomkraftgegner und geläuterte Linksradikale, gemeinsame Nenner waren Umwelt und Frieden.

Zu viele Teutonen in Brüssel

Aus dieser Gemengelage hat sich nach dem Ende der Flügelkämpfe heute ein progressiver Block in der Mitte herausgebildet, der längst nicht mehr allein das urbane, gebildete und einkommensstarke Bürgertum anspricht, sondern in viele gesellschaftlichen Milieus vorgedrungen ist.

Das Potenzial der deutschen Grünen wird unterstützt, aber auch gefordert von Jugendlichen, die Freitag für Freitag straßenöffentlich erklären, wie man vegan-vegetarisch satt werden und ohne Auto vorankommen kann, wie man Plastikmüll vermeidet und nicht zuletzt das Weltklima für ihre Zukunft noch einigermaßen erträglich hält.

Die Frage ist: Haben die Grünen den nationalstaatlichen Container wirklich verlassen?

Die Grünen, die 1979 noch keinen Sitz im Straßburger Parlament erobern konnten, steigerten sich in Deutschland bis 2009 auf 12,1 Prozent, das bisherige Spitzenergebnis. Auch nach Rückschlägen blieb die Parlamentsgruppe in Straßburg und Brüssel von deutschen Abgeordneten dominiert.

In Süd- und Osteuropa sind Parteien der Grünen Splittergrößen, in Österreich, Frankreich und Schweden haben sie sich selbst verzwergt. Eine Vergrößerung der Fraktion ist deshalb dieses Jahr kaum vorstellbar. Zu viele Teutonen in Brüssel werden auch im Grünen-Milieu ein Problem.

Label der Verbots­partei lastet auf Partei

Die Freitagsdemonstrationen sind ein Weckruf, den grünen Markenkern wiederzuentdecken und dazu eine entschieden supra- und transnationale Politik zu treiben. Denn man weiß seit 1979, als die erste Weltklimakonferenz bereits Fakten und Auswege präsentierte, was auf dem Spiel steht.

Seit Grüne nicht mehr nur ein Thema bearbeiten wollten, übersehen sie, dass Ökologie das Thema ist, unter dem alle anderen zu bearbeiten sind. Das Label der Verzichts- und Verbots­partei lastete auf ihnen, der ökologische Fußabdruck ihrer Klientel ist beachtlich, kein Wunder, dass nicht nur die Kids von Fridays for Future (die es übrigens auch gerne geräumig, weltweit mobil und plastikverpackt haben) den Eindruck haben, es werde Wasser gepredigt und Wein getrunken.

Im Europa-Wahlprogramm ist die Ökologie wieder nach vorn gerückt, mit der Perspektive eines Green New Deal, der positiv auf alle anderen Politik- und Lebensbereiche abstrahlt und auch das Problem der gewachsenen sozialen Ungleichheit in und zwischen den EU-Ländern neu stellt. Die Frage bleibt aber, ob die Grünen den nationalstaatlichen Container wirklich verlassen haben und genuin europäisch denken.

Hierzulande kann man den Eindruck gewinnen, sie betrachteten die EU-Wahl im Mai eher als Ouvertüre zu den Landtagswahlen in Ostdeutschland, wo sie noch am Rande der Fünfprozenthürde balancieren. Dabei haben sich die Grünen als wichtige Antagonisten der AfD profiliert, die sich als Klimabremser, Umweltmuffel und Dieselpartei kenntlich machen.

AKK macht sich unmöglich

Diese Rolle können sie gerade in den „neuen Ländern“ selbstbewusst übernehmen, als Partei, die Umweltschutz und Demokratie in Europa voranbringen wird und Ostmitteleuropa eine bessere Perspektive bietet als Konservative und Ultrarechte in Ungarn und Polen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern.

Die Frage ist, mit welchen Koalitionspartnern in Straßburg und Brüssel man eine Politik der Nachhaltigkeit effektiv voranbringen will. Eine schwarz-grüne Option (die in Deutschland auf nationaler Ebene von den Bundesgrünen angestrebt wird) kann man ausschließen mit einer EVP, die Viktor Orbáns Fidesz-Partei in ihren Reihen duldet oder, wie jetzt klarer wird, sich von ihm ganz nach rechts ziehen lässt, indem sie auch um Kaczyńskis PiS wirbt und mit der Forza Italia im Bunde bleibt, deren Repräsentant (und Parlamentspräsident!) Antonio Tajani kürzlich Gutes an Mussolini fand.

Die Kanzlerin in spe, Annegret Kramp-Karrenbauer, hat sich mit der Aussage, Schengen nütze vornehmlich den Kriminellen, unmöglich gemacht. Eine rot-rot-grüne Option ist in Brüssel kaum besser vorstellbar, nicht nur, weil die Sozialisten sich mit ebenso unmöglichen „Genossen“ in Osteuropa abgeben, sondern auch, weil links von ihnen souveränistische Strömungen supranationale Politik per se ablehnen – dass die EU „undemokratisch, militaristisch, neoliberal“ sei, betonen auch Teile der deutschen Linken. Dass die Europäische Union oft bessere ökologische Lösungen anstrebt als die Mitgliedstaaten, ist kaum verstanden worden.

An den Grünen liegt es, nach dem 26. Mai die bestmögliche EU-parlamentarische Konstellation für eine Politik nachhaltigen Klima- und Umweltschutzes zu schaffen, und nach derzeitigem Stand dürfte das am ehesten mit Emmanuel Macrons Bewegungspartei Renaissance und den Liberalen zu machen sein. Wer Europas Institutionen voranbringen und eine gewachsene Rechts-Fraktion auf Distanz halten will, muss sich auch nach besseren Vorsitzenden im Rat, in der Kommission und im Parlament umsehen.

Der bisher favorisierte Ansatz der Spitzenkandidaten ist ohne transnationale Listen kaum sinnvoll und wird von den Staatschefs offen in Frage gestellt. Mit einem in Bayern gewählten EVP-Kandidaten Manfred Weber als Kommissionschef würde sich nur der Berliner Brems- und Schmusekurs fortsetzen. Eine bessere Welt muss auch heute noch selbst wählen.

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16 Kommentare

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  • Timmermans ftw!

    Bei der Debatte hat sich sich doch gezeigt: Rot-Gelb-Grün-Rot funktioniert auf EU-Ebene. Aber halt unter SPE-Führung.



    Kein einziges inhaltliches Argument für die gelb-grüne Koalition schafft Cohn-Bendit hier. Und dazu auch kein machtpolitisches. Denn eine Mehrheit haben die beiden ja auch nicht.

    Also: Progressive Koalition mit Timmermans! Vorwärts!

  • 9G
    94797 (Profil gelöscht)

    Mit den Liberalen eine neue Welt. Das ich nicht lache. 🤑🤑🤑Herr Leggewie und sein Co Autor habens sich sicher gut bezahlen lassen.



    Die Liberalen betreiben ökonomiefreundliche Exklusionspolitik mit Ausschluss grosser Teile der Gesellschaft Und überlassen die Dreckarbeit der AfD. Gute Arbeitsteilung

    • @94797 (Profil gelöscht):

      Kein Grund zur Bezahlung - Cohn-Bendit ist Überzeugungstäter, hat sich in Frankreich ja auch komplett hinter Macron und konsequent gegen die Gelbwesten gestellt.

      • 9G
        94797 (Profil gelöscht)
        @BigRed:

        Hmmmm.Wurde er vielleicht auch für bezahlt. Für diese" Überzeugung "



        Dass Sie ihn Überzeugungstäter nennen, widerspricht ja gar nicht meiner Annahme.



        Man kann auch aus Überzeugung - Geld nehmen. 👼🤑😇

    • 9G
      94797 (Profil gelöscht)
      @94797 (Profil gelöscht):

      Und so ökologisch.👼🌻🌼🌷⚘🐞

  • Hm. Ihr habt recht nachvollziehbar dargelegt, welche Leichen sowohl die Konservativen als auch die Linken so im Keller mitbringen.

    Welche Leichen haben so die Liberalen?

    Kleine Hilfestellung: Freiheit kann mensch auf zweierlei Weisen lesen: die Freiheit des Menschen und die Freiheit des Geldes. Irgendwie hängen sie ja zusammen, sie stehen aber auch miteinander im Konflikt.

    Und diejenigen, die Freiheit für ihr Geld haben wollen (oft weil sie jede Menge davon besitzen) schrecken erfahrungsgemäss nicht davor zurück, sich mit autoritären Kräften zu verbünden, wenn ihnen die Arbeiterbewegungen zu bedrohlich erscheinen.

    Solcherlei Bünde bringen entsetzliche Monster hervor.

    • 9G
      94797 (Profil gelöscht)
      @tomás zerolo:

      Ach , die Arbeiterbewegungen....

    • @tomás zerolo:

      Richtig spannend ist ja auch, dass Macron in Frankreich so nichts für den Umweltschutz getan hat (vom Klimawandel ganz zu schweigen), dass Nicolas Hulot schon vor ner Weile zurückgetreten.



      Die Erklärung, warum sich diese Gruppierung auf europäischer Ebene nun anders verhalten soll, bleiben bisher alle schuldig.

      • @BigRed:

        Ja, alles richtig, doch --

        ist da der Zusammenhang zwischen den zwei Facetten von "liberal": ein Thema, mit dem wir Linke uns häufig schwertun.

  • Vielleicht sollte man es mal mit der wichtigsten Institution, die eine Demokratie erst möglich macht , probieren- der Opposition?

    • @ophorus:

      Die Grünen sind seit 13 Jahren in der Opposition im Bund... und wie ökologisch war in der Zeit die Bundesregierung?

  • Es gibt bei der Europa Wahl in Deutschland die Liste Nr 25 mit dem Grünen Neuen Deal:



    Als Gründer von DiEM25 und als Kandidat von DEMOKRATIE IN EUROPA bei der Europawahl stehe ich für ein radikales Umdenken der Klima- und Sozialpolitik in Europa. Deshalb fordere ich den Europäischen Rat heute dazu auf, einen Europäischen Green New Deal aufzusetzen. Jedes Jahr sollten wir mindestens 500 Milliarden Euro in moderne, emissionsfreie Verkehrsinfrastruktur, erneuerbare Energien und die Forschung und Entwicklung von neuen Technologien und damit in neue Arbeitsplätze investieren. Damit würden wir endlich etwas wirklich effektives gegen die Klimakrise tun.

    Das Geld dafür gibt es bereits. Bis zu 3 Billionen Euro liegen in Europas Finanzsystem herum und richten nur Schaden an (erhöhen z.B. die Aktien- und Immobilienpreise). Durch den Verkauf von Anleihen im Wert von 500 Milliarden Euro könnte die Europäische Investitionsbank, die uns Europäer*innen gehört, all dieses Geld für effektiven Klimaschutz einsetzen. Die Europäische Zentralbank garantiert dabei, dass diese Anleihen ihren Wert behalten. So wie sie es bereits seit 2015 macht.

    Das ist sofort umsetzbar. Um ein solches Maßnahmenpaket zu verabschieden und die nötigen Mittel für eine wirkliche Energiewende bereitzustellen, fehlt also einzig und allein der politische Wille.



    Das habe ich gewählt (Briefwahl), denn Greta Thunberg hat recht!

  • 0G
    05654 (Profil gelöscht)

    In Anbetracht (GroKo-)Kompromissbedingt aufgeweichter Parteiziele ( wie die Priorität des kompromisslosen Umweltschutz ) in der Heutigen Zeit ( wie `Industrieverträgliche Energiewende`etc. ) und daraus sowie aus Nichtrealisierten Wahlversprechen resultierendem Wählerschwund & Wankelmut , bewärt sich der Grundsatz `Ehret den Anfängen`und wäre eine Kehrtwende zurück zu den ursprünglichen Wurzeln - um nicht zu sagen`Radikalen`Zielsetzungen - erwägenswert ... Übrigens @ Nelly M : Den Grünen haftete seit jeher seitens Ultrakonservativer Kontrahenten - insbesondere aufgrund deren starker Antagonisten-Wirkung - der vermeintliche Dünkel der angeblichen `Unwählbarkeit` an ( wobei diese ebenso einfach wie andere mit einem Kreuz auf dem Wahlzettel wählbar sind ) - Wodurch sie jedoch mehr Positives bewirkt haben als so manch andere Partei ( wie z.Bsp. die AfD ) ...

    cdn1.spiegel.de/im...yV9-jmfb-48693.jpg

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  • Liberale aus anderen Staaten gern, aber die deutsche FDP scheidet völlig aus. Die sind genau diejenigen, die wirklich konsequent zu allem "nein" sagen, was dem Klima oder der Umwelt nützt.

    • @Soda:

      Und sie sind diejenigen, die nach der letzten Wahl eine Regierungsbeteiligung mit Grünen rundheraus ablehnten.

      Dann wird es wohl nichts damit.

  • die überkompensation der angst vor der "last" der verbotspartei führt jetzt zu inflationären versprechen von grünem wohlstand/wachstum. kann man in jedem beliebigen interview hören.



    folge: die grünen bleiben auch bis auf weiteres absolut unwählbar.



    (frage: warum kriegen es die linksgrün-parteien in NL besser hin? liegt die last nicht viel mehr an der letzten bundes-regierungsbeteiligung?)