Eskalation in Nahost: Vorbereiten auf iranischen Angriff
Nach der Tötung von Hamas-Kopf Hanijeh wappnet sich das Land. „Man ist auf alle Eventualitäten vorbereitet“, sagt Premier Benjamin Netanjahu.
Gleichwohl: Diplomaten in der Region fürchten, dass nicht nur der Iran, sondern auch die Hisbollah aus dem Libanon und die Huthis aus dem Jemen angreifen könnten. Jordaniens Außenminister Ayman Safadi flog am Sonntagmorgen nach Teheran, um in letzter Minute eine diplomatische Lösung zu finden.
„Man ist auf alle Eventualitäten vorbereitet“, sagte Benjamin Netanjahu in einer Fernsehansprache am Samstag. Und obwohl sich Israels Premier gerade erst eine öffentliche Rüge des engsten Bündnispartners abgeholt hatte, scheint er schon jetzt als Gewinner der möglichen Eskalationsspirale festzustehen. US-Präsident Joe Biden sei in Anwesenheit von Vizepräsidentin Kamala Harris in einem Telefonat erstmals gegenüber Netanjahu wütend geworden, berichteten die Times of Israel und andere Medien am Wochenende. „Nehmen Sie die Unterstützung des US-Präsidenten nicht für selbstverständlich und unterzeichnen Sie endlich einen Waffenstillstand“, wurde Biden weiter zitiert.
Was in den Stunden später geschah, erklärt, warum der seit 16 Jahren immer wieder politisch für erledigt erklärte Netanjahu trotz aller Krisen immer noch glänzend dasteht.
Israel stehe vor schweren Tagen
Schon kurz nach der Ankunft seines wohl auf Weisung Bidens nach Kairo geschickten Teams trat der 74-Jährige wieder vor die Presse. Die indirekten Gespräche mit der Hamas seien gescheitert, ein Abkommen über die Freilassung der Geiseln und einen Waffenstillstand sei in weiter Ferne, so Netanjahu knapp. Am Samstagabend waren wieder tausende Israelis in Tel Aviv und Jerusalem auf der Straße. Wie jede Woche demonstrierten Angehörige der noch bis zu 115 in Gaza festgehaltenen Geiseln und die Zivilgesellschaft gegen die Strategie Netanjahus. In Tel Aviv vertrieben die Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir unterstehenden Polizeieinheiten die friedlichen Protestierenden mit Schlagstöcken.
Doch auch wenn die Zahl seiner Gegner immer größer wird. Netanjahu weiß sich mit einer bewährten Methode zu helfen, die zersplitterte israelische Gesellschaft wieder hinter sich zu bringen: Eskalation. Angesichts des drohenden Raketenangriffs stehe ein Überlebenskampf bevor, den man nur gemeinsam gewinnen könne, so Netanjahu. Dass der Premier mit dem Attentat auf Ismail Hanijeh, den als pragmatisch geltenden Verhandlungsführer der Hamas, die Eskalation selber herbeigeführt hatte, perlt an Netanjahu ab. Dabei hatte es der katarische Außenminister doch undiplomatisch und klar formuliert. „Verhandlungen zur Beilegung der Krise sind unmöglich, wenn eine Seite den Repräsentanten der anderen umbringt.“
In der Ortschaft Tulkarem im Westjordanland wurde angeblich eine Terrorzelle ausgehoben. Bei der Bombardierung eines Flüchtlingslagers kamen am Freitag mehr als acht Palästinenser ums Leben. Nach dem Freitagsgebet nahmen Ben-Gvirs Beamte Scheich Sabri in der Al-Aksa-Moschee in der Altstadt von Jerusalem fest. Der Imam hatte in seiner Rede vor den Betenden den Tod von Hamas-Führer Hanijeh betrauert. „Sicher, man kann das das Verhalten Sabris kritisch sehen“, so der politische Analyst Daniel Seidemann aus Jerusalem. „Aber wenn man ich gefragt worden wäre: ‚Wie kann man die Lage weiter eskalieren lassen?‘, hätte ich die Verhaftung von Sabri empfohlen.“
Netanjahu werde auch einen moderaten Angriff aus dem Iran ohne zivile Opfer mit einem massiven Schlag gegen die Hisbollah beantworten, ist eine in den Cafés von Jerusalem weit verbreitete These. Tatsächlich sieht die derzeitige israelische Regierung nun eine einmalige Chance gekommen, die in Beirut und dem Süden des Libanon populäre Hisbollah zu zerstören. Die dafür nötige US-Unterstützung böte die iranische Vergeltung für das Attentat auf Ismail Hanijeh, trotz Kritik vom US-Präsidenten. Mit einem Hisbollah-Rückzug aus der Grenzregion würde ein ohnehin irgendwann nötiger Krieg nur verschoben, sagen viele israelische Offiziere in den seit 10 Monaten unter Beschuss stehenden Orten Israels.
Während in Nordisrael die Luftschutzräume gesäubert, Lebensmittelvorräte angelegt und Blutkonserven aufgestockt werden, wird weiter südlich die Zahl der Polizeipatrouillen erhöht. Bei dem Angriff eines Palästinensers starben am Sonntag unweit von Tel Aviv zwei Passanten, zwei weitere wurden verletzt. Der Attentäter wurde von der Polizei erschossen. Iran-nahe Gruppen würden derzeit versuchen, Terroristen und Waffen ins Land zu bringen, warnte das Innenministerium. Israel stehe vor schweren Tagen, hatte Netanjahu in seiner Rede gesagt – einer seiner wenigen Sätze, denen seine Gegner nicht widersprechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umweltfolgen des Kriegs in Gaza
Eine Toilettenspülung Wasser pro Tag und Person
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
BGH-Urteil gegen Querdenken-Richter
Richter hat sein Amt für Maskenverbot missbraucht
Streit in der SPD über Kanzlerkandidatur
Die Verunsicherung
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit