Eskalation in Nahost: Hamas kapert die Proteste

Zwei Tote in Israel, mehr als 20 in Gaza: Das ist die bisherige Bilanz der Eskalation zwischen Israel und den Palästinensern.

Ein Mann blickt aus einem Fenster, dessen Rahmen schwer beschädigt ist.

Am Dienstag in Aschkelon: Das Haus wurde von einer Rakete aus Gaza getroffen Foto: Ilia Yefimovich/dpa

TEL AVIV taz | Es ist die schwerste Eskalation seit Jahren. Fast minütlich heulten am Dienstag in den Küstenstädten Aschdod und Aschkelon im Süden Israels die Sirenen und warnten vor Raketenbeschuss. Zwei Frauen wurden am Nachmittag getötet, als Geschosse auf ihren Häusern landeten. Mehrere Personen wurden verletzt.

Die Raketenangriffe der Hamas hatten am Montagabend begonnen, nachdem ein von der Hamas gestelltes Ultimatum abgelaufen war. Pünktlich um 18 Uhr fielen die ersten Raketen auf israelisches Gebiet – ungewöhnlicherweise auch auf Jerusalem.

Die israelische Luftwaffe fliegt seit Montagabend Vergeltungs­an­grif­fe im Gazastreifen. Dabei wurden laut israelischen Militär­angaben bis Dienstagnachmittag 130 Ziele getroffen, darunter das Haus eines Hamas-Komman­deurs sowie zwei Tunnel unter der Grenze. Bei den Angriffen sollen 24 Menschen getötet worden sein, unter ihnen 9 Kinder. Mehr als 100 Personen wurden verletzt.

Anlass für die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen war die Eskalation rund um die Al-Aksa-Moschee auf dem Tempelberg in Jerusalem, wo am Montag mehrere Hundert Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen bei Zusammenstößen mit der Polizei verletzt wurden, und im arabischen Jerusalemer Stadtteil Scheich Dscharrah, wo sich derzeit palästinensische Israelis gegen Zwangsräumungen wehren.

Rauch über Gebäuden

Im Gazastreifen am Dienstag Foto: Ibraheem Abu Mustafa/reuters

„Israel“, so teilte der bewaffnete Arm der Hamas mit, werde wegen „seiner Verbrechen und Aggression gegen die Heilige Stadt und seiner Übergriffe gegen unser Volk in Scheich Dscharrah“ beschossen.

Hamas-Flaggen in den Straßen

Auch auf den Straßen Israels eskalierte die Situation weiter. In Lod, einer gemischten jüdisch-arabischen Stadt südlich von Tel Aviv, wurde bei Zusammenstößen zwischen Polizei und palästinensischen Israelis in der Nacht auf Dienstag ein palästinensischer Israeli erschossen. Noch ist der genaue Tatvorgang unklar.

Laut der israelischen Tageszeitung Ha’aretz wird untersucht, ob der junge Mann von jüdischen An­woh­ne­r*in­nen erschossen wurde, nachdem palästinensische De­mons­tran­t*in­nen Steine auf ihre Häuser geworfen und Gegenstände in Brand gesetzt hatten. Sie sollen auch eine Synagoge angegriffen haben.

Auf den Straßen sind dieser Tage immer wieder die grünen Fahnen der Hamas zu sehen, die die Proteste offensichtlich befeuert. „Die Hamas hat sehr schnell verstanden, dass sie in diesem Moment die Chance hat, den Kampf um die Al-Aksa-Moschee, die angespannte Atmosphäre im Ramadan und die Wut über die Absage der palästinensischen Wahlen vor zwei Wochen zu verbinden und gegen Israel zu lenken“, sagt Roni Shaked, Nahostexperte am Harry-­S.-­Tru­man-In­stitut für Friedensentwicklung. „Zwar sitzen ihre Köpfe in Gaza, doch sie versuchen auf diesem Weg, an Einfluss unter palästinensischen Israelis zu gewinnen.“

Roni Shaked, Analyst

„Die Hamas versucht, an Einfluss unter palästinensischen Israelis zu gewinnen“

Israel andererseits, so kritisiert Shaked, sei in den vergangenen Wochen nach dem Rezept „Wie man einen Krieg kocht“ vorgegangen: Vor drei Wochen hatte die Polizei die Treppen vor dem Damaskustor in Ostjerusalem abgesperrt, dem traditionellen Treffpunkt im Fastenmonat Ramadan. Die Maßnahme gilt als Auslöser für die ersten Proteste, die vor drei Wochen begannen.

Ein Flaggenmarsch von ultrarechten jüdischen Na­tio­na­lis­t*in­nen durch das arabische Viertel in der Altstadt Jerusalems am Montag und Besuche von Jüdinnen und Juden auf dem Tempelberg während des Ramadan seien weitere Provokationen gewesen.

Netanjahu könnte profitieren

Die israelische Armee ließ verlautbaren, sich lediglich in der Anfangsphase der Angriffe auf militärische Ziele im Gazastreifen zu befinden. Sie bereitet sich auf eine weitere Eskalation vor. Doch die meisten Be­ob­ach­te­r*in­nen gehen wie Shaked davon aus, dass die derzeitigen Auseinandersetzungen nicht lange anhalten werden.

Auch mit einem dritten palästinensischen Aufstand sei nicht zu rechnen, sagt Shaked: „Die Hamas hat ihren kleinen Sieg bereits mit dem Abfeuern von Raketen auf Jerusalem errungen. Keine der Parteien ist an einem anhaltenden Krieg oder einer dritten Intifada interessiert.“

Innenpolitisch könnte diese Runde der Eskalation in Israel aber Spuren hinterlassen. Regierungschef Benjamin Netanjahu könnten sie zugute kommen, denn Israel steckt mitten in der Regierungsbildung. Nachdem Netanjahu nach der Parlamentswahl im März keine Koalition schmieden konnte, versucht derzeit Oppositionsführer Jair Lapid von der Zukunftspartei sein Glück.

Teil der von ihm angestrebten Einheitsregierung aus mehreren Koalitionspartnern ist die arabisch-islamische Partei Ra’am. Dessen Vorsitzender Mansur Abbas hat nun angesichts der derzeitigen Situation die Koalitionsverhandlungen vorerst auf Eis gelegt.

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