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Eskalation im Nahost-Konflikt„Das ändert alles“

Mit einem Terrorangriff hat die Hamas Israel überrumpelt und Geiseln genommen. Israel stellt sich auf Krieg ein, der Schaden ist kaum mehr zu beheben.

Ein israelischer Sanitäter deckt den Körper eines toten Palästinensers zu Foto: Ilia Yefimovich/dpa

Tel Aviv taz | „Das fühlt sich nicht real an, nicht wie heute, als würde ich Fernsehbilder aus den 70er Jahren sehen“, sagt die 35-jährige Inbar und schaut auf den Bildschirm ihres Smartphones im Schutzraum in Tel Aviv. Über den Bildschirm flimmern Bilder von israelischen Soldaten, die von bewaffneten Palästinensern mit vorgehaltener Waffe aus einem Panzer gezerrt werden. „Wir haben uns an die Raketen gewöhnt“, sagt ihr Nachbar Leenatan. „Aber dass jemand an unsere Türe klopfen könnte, das ändert alles. Es macht mir Angst.“

Überraschend hat die in Gaza herrschende islamistische Hamas am Samstagmorgen den Süden Israels angegriffen, während viele den letzten Feiertag des jüdischen Sukkot-Festes begingen. Der koordinierte Angriff von dutzenden bewaffneten Kämpfern auf israelischem Gebiet sowie der Abschuss tausender Raketen hat die israelischen Sicherheitsbehörden völlig unvorbereitet getroffen. Laut israelischen Rettungsdiensten wurden mehr als einhundert Israelis getötet, hunderte werden derzeit in Krankenhäusern behandelt. Dutzende Israelis, Soldaten wie Zivilisten, sollen von der durch die EU, die USA und Israel als Terrororganisation eingestuften Hamas nach Gaza verschleppt worden sein. Die israelische Armee verkündete, sie sei „bereit zum Krieg“, antwortete mit Luft- und Artillerieschlägen und verlegte zusätzliche Kräfte in die Region. Bei Angriffen in Gaza starben palästinensischen Angaben zufolge rund 200 Menschen.

Doch für die Menschen im Tel Aviver Schutzraum hat die Hamas psychologisch bereits gewonnen. Den israelischen Geheimdiensten scheinen die Vorbereitungen der Gruppe entweder nicht aufgefallen zu sein, oder es wurde nicht rechtzeitig reagiert. „Dass sie so eine Operation durchführen können, damit hat keiner gerechnet“, sagt Inbar.

Immer wieder fällt der Vergleich zum Jom-Kippur-Krieg, dessen Beginn sich erst in dieser Woche zum 50. Mal gejährt hat. Auch damals waren Israels Armee und Regierung trotz Warnungen von dem Angriff aus Syrien und Ägypten überrascht worden, deren Soldaten tief in israelisches Gebiet vordringen konnten.

Bewaffnete Hamas-Anhänger, die auf Jeeps durch israelische Ortschaften fahren. Israelische Zivilisten, die in ihren Wohnungen als Geiseln gehalten oder entführt werden. Angreifer, die offenbar mit Gleitschirmen die Hightech-Sperranlage zum Gazastreifen überwinden. All das ist eine blamierende Niederlage für Israels Armee und Regierung und ein Sieg für die Extremisten der Hamas. Das Ausmaß des Angriffs ist wegen der unübersichtlichen Lage bisher noch nicht endgültig klar, doch in israelischen und palästinensischen Medien häufen sich die Berichte über grausame Gewalttaten der Angreifer.

Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu verkündete nach dem Angriff, das Land sei „im Krieg“. Verteidigungsminister Joaw Galant erklärte, die Hamas habe „einen Fehler gemacht“. Die Menschen in Gaza werden in den kommenden Tagen voraussichtlich noch heftigere Gegenangriffe der israelischen Armee erleben. Das beschädigte Abschreckungspotential dürfte das aber kaum zurückbringen.

„Wie es jetzt weitergeht, ist kaum vorherzusagen“, sagt Miri Eisin, Geheimdienstexpertin und ehemals Oberst der israelischen Armee. Das seit Wochen zerstrittene Kabinett der rechtsreligiösen Regierung um Benjamin Netanjahu steht vor der beispiellosen Situation, dass sich offenbar dutzende Israelis in palästinensischer Geiselhaft in Gaza befinden. Auch die Hardliner der Regierung hätten darauf keine einfache Antwort. „Ein Einmarsch in Gaza ist machbar und liegt sicher als Option auf dem Tisch“, schätzt Eisin. Doch ein solcher Einsatz in dem mit zwei Millionen Einwohnern dicht besiedelten Küstenstreifen wäre mit hohen Verlusten verbunden. „Und er garantiert nicht, dass wir sie lebend zurückholen können.“

Den Grund für den Zeitpunkt der Aktion vermutet Eisin in mehreren Faktoren: „Zum einen hat die Hamas seit Jahrzehnten mit Terrorangriffen versucht, jede Annäherung an Israel zu verhindern.“ Die diplomatische Aktivität zwischen Saudi-Arabien, den USA und Israel über eine mögliche Normalisierung der Beziehungen sei ein Anlass. Außerdem habe die Hamas-Führung die innerisraelische Krise und die Zerstrittenheit der israelischen Gesellschaft aufmerksam verfolgt und möglicherweise einen schwachen Moment ausgemacht. Offen ist bisher, ob sich vor diesem Hintergrund weitere Gruppen in den Konflikt einschalten werden, wie von der Hamas gefordert. Infrage käme vor allem die vom Iran unterstützte libanesische Hisbollah mit ihrem Arsenal von rund 130.000 Raketen an Israels Nordgrenze.

Zumindest in einem Punkt hat der Angriff bereits etwas verändert: Die innerisraelische Krise ist fürs Erste vom Tisch. Die Protestgruppen haben die wöchentlichen Kundgebungen abgesagt, die Opposition rief zur Geschlossenheit auf. Tausende Reservesoldaten setzten ihre Weigerung, unter der aktuellen Regierung zu dienen, vorübergehend aus.

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27 Kommentare

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  • Natürlich ändert das alles.

    Es war ein Pogrom im eigenen Land.

    Hamas-Terroristen fahren im IS-Style mit Pickups durch israelische Städte und ermordet Zivilisten, weil sie jüdisch sind.

    Nichts wird mehr so sein, wie es davor war.

  • Gerade dieser Ausbruch brutaler Gewalt zeigt, dass es keine Seite gibt, die man vorbehaltlos unterstützen kann.



    Wenn, dann doch nur die unschuldigen Zivilisten auf BEIDEN Seiten, die in das Kreuzfeuer religiöser Fanatiker geraten!



    Denn es waren und sind auf palästinensischer wie jüdischer Seite stets chauvinistische Demagogen, die zum Hass aufstacheln, genau wissend, dass jeder Konflikt ihre Macht vergrößern wird. Sie mästen sich an den Toten und dem Elend!

    Und eingedenk der massiven Proteste der letzten Wochen gegen die Politik Netanyahus erscheint es fast schon so, als hätte die Hamas mit diesem Terror ausgerechnet der rechtsextremen Regierung in Israel den Arsch gerettet…



    Weil man seinen Feind braucht!

  • Israel hat es 2006 im libanon und 2008 in gaza versäumt die iranischen läufer zu entscheidend zu schlagen.



    Den Preis bezahlen grade die israelischen zivilisten, während die teheraner drahtzieher der revolutionsgarden scheinbar immunität geniessen.

    • @Trebla:

      Um eine Region von feindlichen Kämpfern zu Säubern muss man sehr strukturiert vorgehen, was ungeheuer aufwändig ist. Bislang gab es für Israel keinen Grund so etwas zu tun, die können auch Rechnen und ob Bibi jetzt darauf Lust hat weiß ich nicht. Politisch muss er natürlich dort jetzt ein Zeichen setzen und einmarschieren, aber sollte das nur eine Aktion von ein paar Wochen werden wäre es besser nichts zu machen. Weil entweder macht man es richtig oder nicht. Dann verbessert man lieber den Schutz der Grenzorte durch entsprechende Strukturen an Einsatzkräften.

      • @FancyBeard:

        "Bibi" - Den Rechten Netanyahu mit Kosenamen nennen?

      • @FancyBeard:

        Volle Zustimmung.



        Es ist nicht zuletzt Bibi's Verdienst die Hamas trotz mehrerer Kriege nicht zerschlagen zu haben, sondern sich als einen Dompteur zu stilisieren.



        Wie eingebildet dieses Vorgehen war, sieht man jetzt in aller Deutlichkeit.

        • @Trebla:

          "Bibi" - Hier nochmal. Den Rechten Netanyahu mit Kosenamen nennen?

  • Wundern muss man sich nicht. Eine Politik des "The winner takes it all" hat halt einen Preis...

  • Beim Thema "9/11" fällt mir natürlich erstmal ein, wie dumm die USA reagiert haben und was 22 Jahre danach die Folgen sind : Afghanistan ist wieder in Taliban-Herrschaft, Irak und Syrien sind völlig destabilisiert und letztlich in der Hand von Islamisten.



    So, wie die aktuelle Regierung Israels zusammengesetzt ist, wird sie nicht intelligenter reagieren und es wird alles nur noch dauerhaft schlimmer.

  • 3G
    31841 (Profil gelöscht)

    Das ändert auch die Energiepreise und was damit zusammenhängt weltweit.



    Die zur Ausnutzung gezielt in Unlösbarkeit gehaltenen existenziellen Nöte der Einen sorgen für ihre Vervielfältigung in den Nöten der Anderen.

  • "Es macht mir Angst".



    Dieses Zitat teile ich voll und ganz.



    Meine Gedanken sind bei All Denen, die derzeit Angst haben.



    Meine Solidarität gilt dem jüdischen Volk.



    Die Nachrichten sind schlimm.



    Natürlich fällt der Jom Kippur Krieg ein, doch sind die Vorzeichen bisher nicht ganz so dramatisch.



    Während beim genannten Krieg mehrere Länder mit Ihren Armeen Israel attackierten, handelt es sich nun um einen großen Terrorakt einer Terrororganisation.



    So furchtbar die Situation auch ist, ich hoffe, dass keine anderen Länder oder Organisationen die Verbrechen als Anlass nehmen, Israel anzugreifen.

  • Dass der vermeintlich beste Geheimdienst der Welt nichts mitbekommen hat, ist wirklich kaum vorstellbar.



    Wie dem auch sei. Die Hamas hat die Steilvorlage gegeben für eine militärische Antwort Israels, die wieder die Falschen treffen könnte, nämlich Zivilisten. Und diese Antwort wird viele Leichen hinterlassen.

  • In Israel tötet Hamas hunderte (!) Zivilisten, in Berlin verteilt Samidoun zur Feier des Tages Süßigkeiten. Die israelische Armee hat gerade die Grenze zum Gazastreifen überschritten. Es wird noch viele und sehr hässliche Bilder geben. Auch wenn die Hisbollah nicht so bescheuert sein wird, um dem Beispiel der Hamas in den Selbstmord zu folgen. Israel wird von Deutschland politische Rückendeckung erwarten. Das wird eine Zerreißprobe für die Grünen und insbesondere die Linken in Deutschland.

  • Vielleicht ist es tatsächlich so, wie manche Journalisten sagen, das ist Israels 9/11.

    Die apokalyptische Hamas hat ihr eigenes Grab geschaufelt und wird in den nächsten Tagen und Wochen womöglich ihr Ende erleben.

    Rational ist das Handeln der Terrororganisation nicht, aber Antisemitismus hat eben einen zwar immanent logischen, aber eben irrationalen Kern.

    Die Nazis gaben der Vernichtung der Juden den Vorzug vor militärischen Notwendigkeiten, die Hamas führt Attacken, den eigenen Untergang einpreisend.

    Leiden muss die eigene Bevölkerung.

    • @Jim Hawkins:

      Das ist sogar sehr rational: die Hamas hat gerade wieder mal gezeigt, dass sie die einzige palästinensische Gruppierung ist, die auf die israelischen Provokationen und die fortschreitende gewaltsame Landnahme durch israelische Siedler antworten kann und will.



      Das wird ihr Ansehen und ihre Macht weiter stärken. Und jegliche israelische Verlautbarungen, dass die Hamas diesmal aber wirklich zerschlagen werde, haben sich ja seit Jahren als falsch erwiesen.



      Allerdings wird die israelische Armee wie üblich reichlich palästinensische Zivilisten massakrieren.

    • @Jim Hawkins:

      Wenn die Hamas militärisch ihr Ende erleben soll wird das nicht eine Sache von Wochen sein. Ich sage explizit, dass das Problem aufgrund der begrenzten Größe Gazas militärisch lösbar ist, aber dafür muss planvoll und langwierig vorgegangen werden. Die israelische Armee muss den Gazastreifen von der Versorgung abschneiden, in Sektoren aufteilen und dann Sektor für Sektor durchkämmen. Die Zivilbevölkerung muss die Sektoren verlassen und untergebracht/versorgt werden für die Zeit der Aktion. Alles was irgendwie nach zum Waffenbaum geeignet ausschaut muss vernichtet werden. Nach Ende der Aktion im gesamten Gazastreifen muss die Grenze zu Ägypten durch einen Schutzstreifen Israels besetzt bleiben, gleichzeitig darf nichts und niemand mehr ohne vollumfängliche Kontrolle Israels in das Gebiet hineinkommen, eigentlich dürfen nur noch Lebensmittel erlaubt sein, um eine Wiederbewaffnung zu verhindern. Das ist personell natürlich sehr aufwendig und dauert ewig, kann aber Erfolg haben, wenn der Mossad im Ausland noch aufräumt.



      Wenn Bibi sich aber denkt, dass die Existenz der Hamas eigentlich für seine politische Existenz gar nicht so schlecht ist, denn dann kann man immer wieder für Sicherheit sorgen, sein Tradermark, dann wird dort einmarschiert, ein paar Wochen irgendwer erschossen und wieder rausmarschiert. Das ist dann ähnlich wie der Libanonkrieg und ohne nachhaltigen Effekt.

      • @FancyBeard:

        "Bibi" - Sie verwenden hier Netanyahus Kosename ernsthaft?

    • 3G
      31841 (Profil gelöscht)
      @Jim Hawkins:

      Das sehe ich etwas differenzierter Antisemitismus ist schon eine sehr starke Kraft von Seite der Hamas. Aber es ist eben nicht die eigentliche Triebfeder.

      • @31841 (Profil gelöscht):

        Und was ist die "eigentliche Triebfeder"?

      • @31841 (Profil gelöscht):

        Überraschen Sie mich.

  • Zum einen ist das ja wie von Netanyahu bestellt: damit sind seine Versuche Israel in einen postdemokratisch-illiberalen Staat umzubauen erstmal kein Thema mehr, und dazu ist der Angriff noch Wasser auf die Mühlen der israelischen Extremisten.



    Zum anderen wird eine Invasion und Besetzung des Gazastreifens durch israelische Truppen, nachdem er weichgebombt wurde, wohl die unausweichliche Konsequenz dieses umfangreichen Angriffs sein. Tausende Palästinenser werden sterben, was der Hammas natürlich völlig gleichgültig ist. Die Kriegstreiber auf beiden Seiten haben jetzt bis auf Weiteres die Oberhand.

    • @hessebub:

      Israel wäre dumm den Gazastreifen wirklich langfristig zu besetzen, das würde nichts bringen bei den militärischen Kapazitäten, die die Hamas hat.

  • Ohne Bibis versuchte Zerlegung des Rechtsstaates und den daraus zurecht entstehenden Unfrieden in der Gesellschaft/Spaltung hätten die Dienste es sicher verhindern bzw. vorwarnen können. Hoffe dass dies erkannt wird und Israel wieder fest bei der Gewaltenteilung als einen Grundpfeiler der Demokratie bleibt. Dann passiert sowas nicht.

    • @sachmah:

      Demokratie schützt vor Terroranschlägen bzw. Invasion von feindlichen Staaten? Das ist gut zu wissen, denn dann müssen die Taiwaner sich ja keine Sorgen vor China machen. Bloß, wie konnte es dann zum Angriff Russlands auf die Ukraine kommen?

    • @sachmah:

      Ist der erste Satz ernst gemeint? Ich hoffe nicht.