Eskalation im Nahost-Konflikt: „Das ändert alles“
Mit einem Terrorangriff hat die Hamas Israel überrumpelt und Geiseln genommen. Israel stellt sich auf Krieg ein, der Schaden ist kaum mehr zu beheben.
Überraschend hat die in Gaza herrschende islamistische Hamas am Samstagmorgen den Süden Israels angegriffen, während viele den letzten Feiertag des jüdischen Sukkot-Festes begingen. Der koordinierte Angriff von dutzenden bewaffneten Kämpfern auf israelischem Gebiet sowie der Abschuss tausender Raketen hat die israelischen Sicherheitsbehörden völlig unvorbereitet getroffen. Laut israelischen Rettungsdiensten wurden mehr als einhundert Israelis getötet, hunderte werden derzeit in Krankenhäusern behandelt. Dutzende Israelis, Soldaten wie Zivilisten, sollen von der durch die EU, die USA und Israel als Terrororganisation eingestuften Hamas nach Gaza verschleppt worden sein. Die israelische Armee verkündete, sie sei „bereit zum Krieg“, antwortete mit Luft- und Artillerieschlägen und verlegte zusätzliche Kräfte in die Region. Bei Angriffen in Gaza starben palästinensischen Angaben zufolge rund 200 Menschen.
Doch für die Menschen im Tel Aviver Schutzraum hat die Hamas psychologisch bereits gewonnen. Den israelischen Geheimdiensten scheinen die Vorbereitungen der Gruppe entweder nicht aufgefallen zu sein, oder es wurde nicht rechtzeitig reagiert. „Dass sie so eine Operation durchführen können, damit hat keiner gerechnet“, sagt Inbar.
Immer wieder fällt der Vergleich zum Jom-Kippur-Krieg, dessen Beginn sich erst in dieser Woche zum 50. Mal gejährt hat. Auch damals waren Israels Armee und Regierung trotz Warnungen von dem Angriff aus Syrien und Ägypten überrascht worden, deren Soldaten tief in israelisches Gebiet vordringen konnten.
Bewaffnete Hamas-Anhänger, die auf Jeeps durch israelische Ortschaften fahren. Israelische Zivilisten, die in ihren Wohnungen als Geiseln gehalten oder entführt werden. Angreifer, die offenbar mit Gleitschirmen die Hightech-Sperranlage zum Gazastreifen überwinden. All das ist eine blamierende Niederlage für Israels Armee und Regierung und ein Sieg für die Extremisten der Hamas. Das Ausmaß des Angriffs ist wegen der unübersichtlichen Lage bisher noch nicht endgültig klar, doch in israelischen und palästinensischen Medien häufen sich die Berichte über grausame Gewalttaten der Angreifer.
Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu verkündete nach dem Angriff, das Land sei „im Krieg“. Verteidigungsminister Joaw Galant erklärte, die Hamas habe „einen Fehler gemacht“. Die Menschen in Gaza werden in den kommenden Tagen voraussichtlich noch heftigere Gegenangriffe der israelischen Armee erleben. Das beschädigte Abschreckungspotential dürfte das aber kaum zurückbringen.
„Wie es jetzt weitergeht, ist kaum vorherzusagen“, sagt Miri Eisin, Geheimdienstexpertin und ehemals Oberst der israelischen Armee. Das seit Wochen zerstrittene Kabinett der rechtsreligiösen Regierung um Benjamin Netanjahu steht vor der beispiellosen Situation, dass sich offenbar dutzende Israelis in palästinensischer Geiselhaft in Gaza befinden. Auch die Hardliner der Regierung hätten darauf keine einfache Antwort. „Ein Einmarsch in Gaza ist machbar und liegt sicher als Option auf dem Tisch“, schätzt Eisin. Doch ein solcher Einsatz in dem mit zwei Millionen Einwohnern dicht besiedelten Küstenstreifen wäre mit hohen Verlusten verbunden. „Und er garantiert nicht, dass wir sie lebend zurückholen können.“
Den Grund für den Zeitpunkt der Aktion vermutet Eisin in mehreren Faktoren: „Zum einen hat die Hamas seit Jahrzehnten mit Terrorangriffen versucht, jede Annäherung an Israel zu verhindern.“ Die diplomatische Aktivität zwischen Saudi-Arabien, den USA und Israel über eine mögliche Normalisierung der Beziehungen sei ein Anlass. Außerdem habe die Hamas-Führung die innerisraelische Krise und die Zerstrittenheit der israelischen Gesellschaft aufmerksam verfolgt und möglicherweise einen schwachen Moment ausgemacht. Offen ist bisher, ob sich vor diesem Hintergrund weitere Gruppen in den Konflikt einschalten werden, wie von der Hamas gefordert. Infrage käme vor allem die vom Iran unterstützte libanesische Hisbollah mit ihrem Arsenal von rund 130.000 Raketen an Israels Nordgrenze.
Zumindest in einem Punkt hat der Angriff bereits etwas verändert: Die innerisraelische Krise ist fürs Erste vom Tisch. Die Protestgruppen haben die wöchentlichen Kundgebungen abgesagt, die Opposition rief zur Geschlossenheit auf. Tausende Reservesoldaten setzten ihre Weigerung, unter der aktuellen Regierung zu dienen, vorübergehend aus.
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