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„Es ist meine Pflicht, mich aufzulehnen“

Tommie Shelby wuchs als Schwarzes Arbeiterkind in den US-Südstaaten auf. Heute lehrt er an der Eliteuniversität Harvard und fragt sich: Wie gelingt ein würdevolles Leben in einer ungerechten Welt?

Erst durch kollektiven Widerstand entstehe eine Kultur der Würde

Interview Tobias Bachmann

taz: Als Philosoph entwickeln Sie eine „politische Ethik der Unterdrückten“. Brauchen unterdrückte Menschen wirklich noch mehr Regeln?

Tommie Shelby: Das nicht, aber eine andere Perspektive schon. Denn die Mitglieder systematisch unterdrückter Gruppen, wie Schwarze Menschen oder Frauen, sind mit besonderen ethischen Fragen konfrontiert. Zum Beispiel: Wie beeinflusst das Verhalten einzelner die Chancen der Gruppe, sich aus ihrer Unterdrückung zu befreien? Was darf die Gruppe von einzelnen erwarten? Und: Wie gelingt trotz Unterdrückung ein erfülltes und würdevolles Leben?

taz: In welchen Situationen sind diese Fragen denn relevant?

Shelby: Nehmen wir das Beispiel der Sklaverei in den Vereinigten Staaten. Damals überlegten viele Sklaven zu fliehen. Doch wer das versuchte, wusste in der Regel, dass die Zurückbleibenden teils auf grausame Art bestraft werden würden. Das ist ein schwieriges moralisches Dilemma. Viele sahen sich als Teil einer Gemeinschaft von Sklaven und machten sich Sorgen um ihre Mitmenschen, überlegten beispielsweise, ob sie nur gehen sollten, wenn sie den anderen auch zur Flucht verhelfen könnten.

taz: Was wäre aus Ihrer Sicht richtig gewesen?

Shelby: Die Belastungen für jeden Einzelnen waren unter der Sklaverei enorm. Wenn Sklaven sich also für einen individuellen Ausweg aus ihrer Lage entschieden haben, sich dachten: „Ich tue das, was für mich oder meine Familie am besten ist“, kann das völlig in Ordnung sein. Jedoch bleiben zwei Fragen. Erstens: Wie kann die Gruppe als Ganze ihre Freiheit erlangen, möglicherweise unter schlechteren Ausgangsbedingungen? Und zweitens: Was macht es mit der Würde einzelner Menschen, zu gehen oder zu bleiben?

taz: Sind diese Fragen 160 Jahre nach der Abschaffung der Sklaverei in den USA heute noch aktuell?

Shelby: Ja, natürlich. Vor Kurzem habe ich mit Freunden den Vampir-Horrorfilm „Blood & Sinners“ im Kino geschaut. Die Frage nach Solidarität unter Unterdrückten, individueller Freiheit und Selbstachtung werden darin buchstäblich unter den Charakteren verhandelt. Und auch außerhalb des Kinos: Solange es in der Gesellschaft Hierarchien zwischen verschiedenen Gruppen gibt, diskutieren Menschen darüber, wie sie im Angesicht von Diskriminierung und Unterdrückung richtig handeln.

taz: „Blood & Sinners“ spielt 1932 in den Südstaaten der USA. Damals galten dort die Jim-Crow-Gesetze. Ihre Familie lebte ebenfalls unter Jim Crow im US-Süden, in Georgia. Was war das für eine Zeit?

Shelby: Mit Jim Crow ging die systematische Unterdrückung Schwarzer Menschen trotz Abschaffung der Sklaverei weiter. Schwarze Männer durften bei der Arbeit keine Führungsrollen übernehmen, waren auf Handarbeit oder einfache Dienstleistungen beschränkt. Für Schwarze Frauen war es noch schlimmer: Die meisten, auch meine Mutter und Großmutter, durften nur Hausarbeit verrichten. Also putzten sie die Häuser weißer Familien und kochten für sie. Auf dieselben Schulen wie die weißen Kinder durften ihre eigenen Kinder nicht.

taz: Und wenn man sich nicht an diese Regeln halten wollte?

Shelby: Viele, die sich widersetzt haben, waren daraufhin extremer, gesetzloser Gewalt ausgesetzt. Sie wurden gefoltert, gelyncht, ermordet.

taz: Sie sind im Jahr 1967 geboren, kurz nachdem Jim Crow abgeschafft wurde. Was haben Sie davon noch mitbekommen?

Shelby: Nur weil die Gesetze abgeschafft wurden, war der Rassismus nicht weg. Ich wurde rassistisch beleidigt und ausgegrenzt, bin mit dem Gefühl aufgewachsen, in der sozialen Hierarchie weit unten zu stehen. Zudem wurde meine Familie, wie viele Schwarze Familien, durch Jim Crow und auch noch lange danach ökonomisch benachteiligt. Wir waren Teil der armen Arbeiterklasse, mussten kämpfen, um uns finanziell über Wasser zu halten. Als Ältester von sechs Geschwistern war ich dann der Erste aus meiner Familie, der studiert hat.

taz: Deshalb haben Sie zunächst BWL studiert?

Shelby: Ich hielt es für nötig, viel Geld zu verdienen, um meiner Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. Deshalb begann ich ein Wirtschaftsstudium und versuchte, in die Unternehmenswelt einzusteigen.

taz: Das war jedoch nicht so Ihr Ding.

Shelby: Ich war 20 Jahre alt, hatte kein wirkliches Interesse am Geschäftemachen und fand die Vorstellung fürchterlich, für die nächsten 50 Jahre etwas zu tun, das mir nichts bedeutet. Also wechselte ich zur Philosophie.

taz: Wie hat Ihre Familie darauf reagiert, dass Sie zunächst nicht mehr so viel zum Lebensunterhalt beitragen konnten?

Shelby: Meine Familie hat mir nie viel Druck gemacht. Meine Mutter wurde mit mir schwanger, als sie ein Teenager war. Wir wurden gewissermaßen zusammen erwachsen. Sie hielt es nie für angebracht, mir vorzuschreiben, wie ich mein Leben leben soll. Ich wusste schon, dass es für sie und meine Geschwister besser gewesen wäre, hätte ich mehr Geld verdient. Ich wollte ihnen auch helfen. Aber unsere Situation war nie so schlecht, dass das unbedingt notwendig gewesen wäre. Wir hatten ein gewisses Maß an Stabilität. Hätten wir damals nicht genug Geld für die Miete und Essen gehabt, hätte ich mich vielleicht anders entschieden.

Foto: privat

Tommie Shelby, Jahrgang 1967, ist Professor für Philosophie an der Uni Harvard. In seinen Büchern „We Who Are Dark“ und „The Idea of Prison Abolition“ argumentiert er für Solidarität unter rassistisch unterdrückten Menschen und die Abschaffung von Gefängnissen. Für das Centre for Social Critique in Berlin hielt er im Juni 2025 die Walter-Benjamin-Vorlesungen.

taz: Heute sind Sie Professor an der US-Elite-Universität Harvard. Wie leben Sie Ihre politische Ethik der Unterdrückten?

Shelby: Als Schwarzer Mann gehöre ich zu einer Gruppe von Menschen, die bis heute benachteiligt und unterdrückt werden. Als Teil dieser Gruppe sehe ich es als meine Pflicht, mich gegen Ungerechtigkeiten aufzulehnen und mich anderen anzuschließen, die versuchen, die Dinge zum Besseren zu wenden.

taz: Das klingt sehr mühsam. Sie könnten es sich vermutlich auch einfacher machen.

Shelby: Ja, aber für unsere Selbstachtung ist es zentral, dass wir uns selbst als moralisch Handelnde anerkennen. Wir müssen uns selbst respektieren und diesen Respekt auch von anderen Menschen einfordern – als Einzelpersonen und als unterdrückte Gruppe. Manche fügen sich der sozialen Hierarchie, um materielle Vorteile zu erlangen. Wer so handelt, opfert unter Umständen seine Selbstachtung. Und riskiert, dass es für die unterdrückte Gruppe schwieriger wird, sich zu befreien.

taz: Inwiefern?

Shelby: Je weniger Mitglieder einer unterdrückten Gruppe sich als solche identifizieren und entsprechend solidarisch handeln, desto schwerer wird es für die Gruppe, sich zu befreien. In den USA verbreiten Trump und seine Gefolgsleute gerade wieder offensiv rassistische Vorurteile. Dann wird gesagt oder impliziert, dass Schwarze Menschen intellektuell minderwertig seien oder zu Kriminalität und Gewalt neigen würden. Wenn niemand solchen Vorurteilen widerspricht, wird dieser Rassismus plötzlich wieder zur Mehrheitsmeinung.

taz: Widersprechen kann gefährlich sein.

Shelby: Allein und vereinzelt schon. Bei der Arbeit kann man gefeuert werden, in der Schule von Mit­schü­le­r*in­nen drangsaliert. Wenn Widersprechen aber keine rein individuelle, sondern eine soziale Praxis wird, sieht das anders aus.

Manche fügen sich sozialen Hierarchien, um materielle Vorteile zu erlangen. Sie riskieren damit einen Nachteil für die ganze Gruppe

taz: Wie meinen Sie das?

Shelby: Wenn viele sich moralisch dazu verpflichten, ihre Stimmen zu erheben, sobald ihnen etwas Rassistisches widerfährt, kann eine widerständige Kultur entstehen – eine Kultur der Würde unter den Unterdrückten. Dadurch kann es leichter werden, sich in zwischenmenschlichen Situationen zu behaupten, aber auch Institutionen und Gesetze zu verändern, die diskriminierend sind.

taz: Es geht Ihnen also im Grunde um mehr Solidarität?

Shelby: Um ein bestimmtes Verständnis von Solidarität. Viele solidarisieren sich abstrakt mit sozialen Bewegungen oder mit von Unterdrückung betroffenen Menschen. Aber mir geht es um mehr. Mir geht es um Solidarität als moralische Selbstverpflichtung zum Handeln, zur gegenseitigen Unterstützung zwischen den Mitgliedern unterdrückter Gruppen. Wenn Einzelne sich darauf verlassen können, dass andere ihnen solidarisch beistehen, sie im Ernstfall unterstützten, stärkt das ihre individuelle und kollektive Widerstandskraft.

taz: Das klingt erst mal gut. Aber können sich Einzelne wirklich auf eine solche Solidarität verlassen?

Shelby: Dafür müssen innerhalb einer unterdrückten Gruppe solidarische Beziehungen etabliert werden, die einer politischen Ethik der Unterdrückten entsprechen. Solidarität und Selbstachtung sind dann miteinander verwoben. Und das bedeutet: Wer sich nicht selbst verraten will, handelt solidarisch.

taz: Wo ist da dann noch Raum für individuelle Freiheiten?

Solidarische Praxis abseits des Hörsaals: Black Lives Matter Proteste in New York, 2020

Shelby: Den muss es innerhalb einer politischen Ethik der Unterdrückten unbedingt geben. Wir alle haben nur ein Leben. Und wir versuchen diesem einen Sinn zu verleihen: gute Beziehungen zu führen, Sport zu treiben, Kunst zu erschaffen. Das kann heilsam sein, selbst wenn es nicht direkt widerständig ist. Für politische Bewegungen ist es entscheidend, das anzuerkennen.

taz: Wie wollen Sie die mitnehmen, die sich aus Angst vor Repression, aus Opportunismus oder anderen Gründen nicht gegen ihre Unterdrückung auflehnen wollen?

Shelby: Indem wir ihnen aufzeigen, wofür es sich zu kämpfen lohnt. Dass es ihnen besser gehen würde, wenn sich alle Menschen gegenseitig als moralisch gleichwertig begegnen würden, in einem gerechten Gesellschaftssystem, in dem alle gleichermaßen frei sind.

taz: Was für ein Gesellschaftssystem wäre das?

Shelby: Das ist eine sehr umstrittene Frage. Ich denke, ein liberaler Sozialismus, der ein breites Spektrum an persönlichen Freiheiten ermöglicht, ist wahrscheinlich die einzige gerechte Lösung.

Solidarität und Selbstachtung sind laut Shelby miteinander verwoben. Wer sich nicht selbst verraten will, handelt besser solidarisch Fotos: Ismail Ferdous/VU/laif

taz: Schwarze Den­ke­r*in­nen haben schon vor langer Zeit eingewandt, dass das nicht automatisch den Rassismus auflösen würde.

Shelby: Stimmt. Selbst Denker der Schwarzen radikalen Tradition wie W. E. B. Du Bois oder Martin Luther King Jr. waren eher skeptisch, dass die Emanzipation der Arbeiterklasse der Schlüssel ist, um alle Formen von Unterdrückung auf der Welt zu beseitigen. Gleichzeitig arbeiteten sie sich an der Geschichte der Kolonisierung und Versklavung verschiedener Völker durch europäische Mächte ab, die unweigerlich mit dem Aufstieg des Kapitalismus verwoben ist.

taz: Der Rassismus steht und fällt also doch mit dem Kapitalismus?

Shelby: Der Reichtum der Welt, der sich in den Händen weniger konzentriert, wurde über Jahrhunderte auf Kosten der großen Mehrheit der Weltbevölkerung angehäuft. Würde man ihn jetzt halbwegs gleichmäßig verteilen, ließe sich der Rassismus jedenfalls deutlich leichter überwinden.

taz: Welche Art von Solidarität bräuchte es dafür von weißen Menschen?

Shelby: Ein guter Anfang wäre, Solidarität innerhalb der Arbeiterklasse über Ländergrenzen hinweg aufzubauen. Denn rassistische Ausgrenzung ging historisch auch von weißen Ar­bei­te­r*in­nen aus. Global gesehen profitiert ein Teil der weißen Arbeiterschaft bis heute davon, rassistische Hierarchien aufrechtzuerhalten. Die Versuchung ist immer da. Gerade deshalb braucht es in der Ar­bei­te­r*in­nen­be­we­gung ein Verständnis von Solidarität als moralische Selbstverpflichtung zum Handeln für echte Gerechtigkeit. Für einzelne mag eine gerechtere Welt weniger Privilegien bedeuten. Aber allen wird es damit besser gehen.

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