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Erziehungsfragen in der StraßenbahnFalsches Dorf, falsche Zeit

Viele Eltern wären gern weniger allein mit der Erziehungslast – aber wenn sich fremde Leute einmischen wird es auch schwierig.

Fremde Kinder anmeckern, gehört sich nicht. Früher auf dem Dorf war das anders Foto: Bernd Wüstneck/dpa

L eider habe ich den Anfang verpasst. Als ich in die Straßenbahn steige, sind die beiden Frauen schon verbal ineinander verkeilt. Eine Mutter schimpft mit einer älteren Dame. „Die ist frisch eingeschult, hat den zweiten Acht-Stunden-Tag hinter sich, die ist müde und kaputt.“

Ich denke erst, es geht um den Sitzplatz, aber nein. „Sie machen hier mein Kind einfach an, was fällt Ihnen denn ein, was geht Sie das an, wie mein Kind mit mir redet?“ Die ältere Dame sagt nicht mehr viel. Nur noch „Aha“, „Na ja“ und „Ach, das finden Sie in Ordnung so?“ in einem Ton, der changiert zwischen peinlich berührt und trotzigem Ich-habe-es-doch-nur-gut-gemeint.

Rundherum drücken Menschen ihre Kopfhörer tiefer in die Ohren und starren auf ihre Smartphones. Leider kann ich nicht sehen, was das Kind für ein Gesicht macht. Natürlich ist es übergriffig, ein fremdes Kind in der Straßenbahn zu maßregeln, wenn man nicht gerade selbst mit Dingen beworfen, in den Rücken geboxt oder angespuckt wird. Einerseits.

Andrerseits schwirrt in meiner Erziehungsbubble ja gerne immer mal wieder der Spruch „Es braucht ein ganzes Dorf, um ein Kind groß zu ziehen“ durch die Gegend. Also vorzugsweise, wenn man darauf hinweisen möchte, dass dieses fragile Kleinfamiliendings jawohl eine kolossale Fehlentwicklung ist.

Als Alleinerziehende halte ich da natürlich sehr viel von, ich wüsste gar nicht wie das alles gehen sollte, wenn ich nicht einen soliden Frauenclan im Rücken hätte. Aber bei aller Liebe zur geteilten Erziehungslast – am Ende möchte man dann halt doch gern, dass dieses Dorf nur aus handverlesenen Ein­woh­ne­rn besteht, nicht wahr?

Unser liebsten Spiel hieß „weggelaufene Kinder“

Auf keinen Fall sollen da Leute drin wohnen, die meine Kinder autoritär von oben herab zurechtweisen. Oder Menschen, die ihre Kindergartenkinder mit Chips und Eistee füttern. Aber auch nicht solche, die einer Fünfjährigen die zweite Kugel Schokoeis verweigern, mit dem Hinweis, sie sei jawohl schon moppelig genug.

In meiner eigenen Dorfkindheit wurde man andauernd von irgendwelchen Erwachsenen gemaßregelt und fand das meistens ungerecht. Darüber beschweren durfte man sich Zuhause aber lieber nicht, weil Eltern in der Regel davon ausgingen, dass diese anderen Erwachsenen schon irgendwie Recht haben werden.

Man kassierte also im Zweifel noch einen Anschiss oder irgendeine Ansprache von „was hast du denn da wieder gemacht“ und „wie stehe ich denn jetzt da“. Unser liebstes Spiel hieß „weggelaufene Kinder“ und bestand darin sich durch Gärten, Wiesen, Felder und Wäldchen zu pirschen, ohne von einem Erwachsenen gesehen zu werden. Es war einfach klar, dass die in einer anderen Welt leben, einer schwer durchschaubaren und irgendwie seltsamen Welt.

Ich glaube, die Frau in der Straßenbahn lebte in ganz genau der gleichen Welt wie ihre Tochter. Es war warm, sie sah müde aus, erschöpft bestimmt auch von all diesen Umstellungen, die so ein Schulanfang in den familiären Routinen produziert. Da wird die Zündschnur kurz. Hätte das blöde Dorf halt mal früher aufstehen müssen, um nützlich zu sein. Dann wäre vielleicht auch noch ein bisschen Gelassenheit übrig gewesen.

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Nadine Conti
Niedersachsen-Korrespondentin der taz in Hannover seit 2020
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