Ersatzunterkünfte: Obdachlose ohne Corona-Bleibe
Eine Obdachlosen-Initiative besetzte ein leer stehendes Haus in Mitte. Bezirk und Eigentümer verhandeln weiter, aber die Obdachlosen gehen leer aus.
Einen Monat später stellte sich die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) auf die Seite der Obdachlosen. Bei wenigen Gegenstimmen von CDU und FDP beschlossen die Abgeordneten „die leer stehenden Wohnungen in der Habersaathstraße 40–48 zu beschlagnahmen und als Wohnraum für obdach- und wohnungslose Menschen bereitzustellen“, wie es in dem von der Linken eingebrachten Antrag heißt. Valentina Hauser vom Kollektiv der Besetzer*innen, sprach gegenüber der taz von einem „richtigen Schritt, den wir sehr begrüßen“ und forderte eine „zügige Umsetzung dieses Beschlusses“.
Doch daraus wird nichts werden. Nicht nur, weil der Beschluss der BVV – wie alle ihre Beschlüsse – nur ein Appell ans Bezirksamt ist, das sich dann mit der rechtlich heiklen Angelegenheit befassen muss. Vor allem aber, hat sich die verfahrene Situation um das Gebäude seitdem grundlegend geändert.
Seit Jahren streitet sich der Bezirk mit dem Eigentümer, der die überwiegend intakte Platte abreißen lassen will, was ihm der Bezirk verwehrt. Das Haus wurde 2006 für nur zwei Millionen Euro privatisiert, gute zehn Jahre später für den fast zehnfachen Preis weiterverkauft. Ein guter Teil der Mieter*innen wurde vergrault, wenige verbliebene wehren sich mit Händen und Füßen. Ende November hat nun aber das Verwaltungsgericht mitgeteilt, dass es die vom Bezirk geforderte Wiedervermietung der Wohnungen und die Untersagung des Abrisses nicht für angemessen hält, wie Jugend- und Familienstadträtin Ramona Reiser (Linke) bestätigt.
Eigentümer legt Vergleichsangebot vor
Erstmals seit Jahren sitzen nun Bezirk und Eigentümer wieder an einem Tisch. Letzterer hat ein Vergleichsangebot vorgelegt, dass sich zumindest in einer zentralen Frage auf den Bezirk zubewegt: dem Eingeständnis, dass es sich – zumindest bei einem Teil der insgesamt 105 Wohnungen – um schützenswerten Wohnraum handelt. Dies sieht auch der Bezirk so, für das ganze Haus: „Es muss nicht alles wie 2020 aussehen“, sagt Reiser.
Die Klassifizierung als schützenswert hat wesentliche Folgen: Ein Abriss ist dann nur gestattet, wenn angemessener Ersatzwohnraum geschaffen wird, sowohl was die Zahl, die Qualität als auch den Zuschnitt der Wohnungen betrifft. Obendrein ist im Zweckentfremdungsverbotsgesetz geregelt, dass die neuen Wohnungen für nicht mehr als 7,92 Euro pro Quadratmeter vermietet werden dürfen. Der Eigentümer versucht daher, nicht alle Wohnungen ersetzen zu müssen, um zumindest einen Teil ohne Preislimit vermieten zu können. Katalin Gennburg, stadtentwicklungspolitische Sprecherin der Linksfraktion, befürchtet gar, dass er das leere Grundstück einfach weiterverkaufen könnte.
Immerhin liegen inzwischen konkrete Angebote für die verbliebenen etwa ein Dutzend Mieter*innen auf dem Tisch. Sie sollen Umsetzwohnungen während der Baumaßnahme bekommen sowie Angebote für Wohnungen im Neubau oder eine Abfindung. Am Dienstag verständigte sich das Bezirksamt auf seiner Sitzung darauf, weitere Nachverhandlungen im Sinne der Mieter*innen zu suchen und aufgrund der pandemiebedingt eingeschränkten Arbeitssituation auch über die Einigungsfrist 18. Dezember reden zu wollen. Parallel möchte man, so Reiser, auch den „Gedanken einer Rekommunalisierung nicht begraben“ und dafür die alten Kaufverträge überprüfen.
Schützenswerter Wohnraum
Bereits an diesem Donnerstag werden Bezirk und Eigentümer weiter über die Bedingungen des Abrisses verhandeln. Die Obdachlosen, die für sich auf Wohnraum gehofft hatten, werden aber wohl in jedem Fall leer ausgehen, selbst wenn das Haus noch einige Monate leer stehen sollte. Denn eine Beschlagnahmung nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) unterliegt strengen Voraussetzungen und kommt erst bei einer erheblichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Betracht und wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind.
Das sind sie aber nicht: Reiser verweist auf „überraschend viele Angebote“, die nach einer Suchmeldung des Bezirksamts am Tag nach der Besetzung für Unterkünfte für coronainfizierte Personen eingegangen seien. Der Grünen-Abgeordnete Taylan Kurt kritisiert die strenge Auslegung des ASOG. Im Gespräch mit der taz fordert er die Definition für Ersatzunterkünfte zu ändern, sodass Personen einen Anspruch auf „abgeschlossene Wohneinheiten“ haben. Entsprechende Signale aus dem Senat gibt es aber keine.
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