Ermittlungen im Fall Mohammed Idrissi: Polizei schafft Bedrohung
Warum musste Mohammed Idrissi sterben? Falsche Frage: Er musste nicht sterben. Er ist von der Bremer Polizei erschossen worden.
Das Eintreffen des anrückenden Sozialpsychiatrischen Krisendiensts haben sie nicht abgewartet. Spätestens im Innenhof der Wohnanlage entglitt ihnen die Kontrolle. Um 14.10 Uhr schoss einer von ihnen auf den 54-Jährigen. Der erlag wenig später seinen Verletzungen. Es seien „keine gesonderten, neuen Ermittlungsverfahren eingeleitet“ worden, hat die Staatsanwaltschaft nun auf Anfrage der taz mitgeteilt.
Bedeutet: Zwar hat Idrissis Tochter Aicha Meisel-Suhr mit anderen Angehörigen eine Wiederaufnahme der Ermittlungen erzwungen. Aber auch in deren zweiter Auflage werden weder der Schütze noch seine Kolleg*innen bislang als Beschuldigte geführt. Entsprechend ist er „weiterhin im Einsatzdienst und damit auch im Außendienst tätig“, wie das Innenressort mitteilt. Auch die anderen Beteiligten seien „wieder im Einsatz“, bewaffnet und in Uniform.
Immerhin wird laut Staatsanwaltschaft „voraussichtlich ein ergänzendes, rechtsmedizinisches Gutachten in Auftrag gegeben“. In Auftrag geben. Drei Monate nach Neubeginn der Untersuchung – nein, man hat es wahrlich nicht eilig, mit dem, was Aufklärung sein sollte.
Beim Sterben zuschauen
Das rechtsmedizinische Gutachten muss klären, ob die Beamt*innen ihr Opfer noch hätten retten können: Nachdem Mohamed Idrissi von Kugeln in die Brust getroffen zusammengebrochen ist, entscheiden die Polizist*innen nämlich, ihn nur zu fesseln und dann liegen zu lassen.
Es gibt Aufnahmen, die zeigen, wie vier Beamt*innen rumstehen, während sich unter seinem Körper eine Blutlache bildet. Nicht einmal in stabile Seitenlage gebracht wird der 54-Jährige. „Die Erstversorgung eines Verletzten nach einer Schussverletzung muss selbstverständlich immer so schnell wie möglich erfolgen“, teilt dazu die Innenbehörde mit, allerdings „ohne Selbstschutzmaßnahmen zu gefährden“.
Irgendwann, nach quälend langen Minuten, trifft dann ein zweites Polizeiteam ein. Es fordert die anderen Beamt*innen auf, die Handschellen aufzuschließen, damit es möglich würde, dem mit dem Tode Ringenden Erste Hilfe zu leisten – zu spät.
Jan van Lengerich, Anwalt der Angehörigen, sieht darin „mindestens Totschlag durch Unterlassen“, sofern es nicht darum gehen sollte, das zu vertuschen, was vorher falsch gelaufen war. „Die Beteiligten müssen in dem Moment schon kapiert haben, dass sie hier Mist gebaut hatten“, sagt Lengerich.
Das sieht die Staatsanwaltschaft anders, völlig, will sie anders sehen: „Die Umstände der Begleitung des Herrn Idrissi aus der Wohnung vor dem Eintreffen des Krisendienstes waren bereits vor der Wiederaufnahme der Ermittlungen geklärt“, teilt sie mit. Die hätten keinerlei Mängel gehabt, nur sei halt vom Anwalt der Tochter des Verstorbenen neues Beweismaterial vorgelegt worden.
„Hierbei handelt es sich um Videoaufnahmen, die ihm bzw. seiner Mandantin von dritten Personen übergeben worden waren“, heißt es auf Anfrage der taz. „Diese Aufnahmen waren den Ermittlungsbehörden bis dahin nicht bekannt.“
Dennoch ist man sich bei der Staatsanwaltschaft sicher, dass schon bei der rechtlichen Würdigung des Einstellungsbeschlusses, der hier nur Notwehr hatte erkennen können, „das gesamte Geschehen berücksichtigt“ worden sei. Wer sich aber die Mühe macht, Umstände und Hergang der Tat zu rekonstruieren, muss das bezweifeln.
Breitenbachhof – so heißt die Wohnanlage in Gröpelingen, in der Mohamed Idrissi seit Jahren lebte. „Kommunikationsschwierigkeiten gab es nie“, teilt Marc Bohn mit, der Vorstandsvorsitzende der Eisenbahner Spar- und Bau-Genossenschaft (Espabau) mit. Ein akutes Problem schon: Im Keller gab es einen Wasserschaden.
Als dessen Urheber galt Idrissi. Dessen paranoide Schizophrenie war aktenkundig. Er hatte einen Waschzwang entwickelt. Und das Wasser habe den Haus-Verteiler „in Mitleidenschaft gezogen“, sagt Bohn.
Die Polizei sei gerufen worden, „um festzustellen, ob durch die Durchfeuchtung der elektrischen Anlage eine Eigen- und/oder Fremdgefährdung vorlag“ – nicht aber, um die Wohnung zu räumen. Zu keinem Zeitpunkt habe die Absicht einer sofortigen Räumung der Wohnung bestanden. „Eine sofortige Räumung wäre von Rechtswegen her nicht möglich gewesen“, schreibt Bohn der taz.
Espabau hatte zuvor auch den Betreuer von Mohamed Idrissi über die geplante Wohnungsbegehung informiert. Wenn nun der das Krisen-Interventions-Team des Sozialpsychiatrischen Dienst (KID) in Bewegung setzt, ruft das routinemäßig auch die Polizei.
Das würde erklären, warum eine zweite Streifenwagenbesatzung, kurz nach der Tat, am Ort des Geschehens aufgetaucht ist. Es erklärt aber nicht, warum die Beamt*innen in der Wohnung nicht die zehn Minuten noch auf die sozialpsychiatrischen Fachkräfte warteten.
Um 14.20 Uhr trifft das KID-Team ein, pünktlich, aber doch zu spät: Weder hat es im Stau gesteckt, noch hat sich die Anfahrt anderweitig verzögert, versichert die Gesundheitsbehörde. Allen Daten zufolge „war die Zeit nicht unüblich lang“. Trotzdem ist Idrissi da schon tödlich getroffen.
Hätten die Polizist*innen am Ende gar nicht mitgekriegt, dass die Fachleute vom Krisendienst anrücken? „Wir wissen aus den Funkprotokollen, dass es eine klare Anweisung gab, auf die zu warten“, sagt Aicha Meisel-Suhr. „Die ging direkt an den späteren Schützen.“
Schleierhaft bleibt ohnehin, warum die Beamt*innen Idrissi ohne Räumungsbeschluss aus seiner Wohnung zitieren. „Es war doch keine Gefahr im Verzug“, sagt Meisel-Suhr. „Es ging doch für niemanden um Leib und Leben!“
In die Enge getrieben
Draußen, im durch parkende Autos und einen Möbeltransporter beengten Innenhof der Wohnanlage, umzingeln die Polizist*innen Mohamed Idrissi. Pistolen richten sie auf ihn. Er sei „nicht als gewaltbereit bekannt“ gewesen, lautet die Einschätzung des Sozialpsychiatrischen Dienstes. Auch hier wirkt er eher in die Enge getrieben: hilflos, wie ein Tier, das nicht in den Käfig gesperrt werden will.
Das zeigen Videos, aufgenommen per Handy von Anwohner*innen. Nur, wer die Sequenzen zusammen sichtet, erhält einen schlüssigen Ablauf. Und der beginnt damit, dass die Polizist*innen Idrissi mit vorgehaltener Waffe zwingen, ihnen einen Gegenstand zu zeigen. „Was haben Sie da?“ Er hält ihn hoch. Länglich ist er, und er steckt in einem schwarzen Etui.
„Was ist das“, fahren sie ihn an. Er zieht das Ding aus der Hülle. Es ist ein Messer. Daraufhin schreien die Polizist*innen: „Leg das Messer weg!“ Idrissi beteuert, eine Genehmigung dafür zu haben, es mitzuführen. Er will das Papier aus der Hosentasche kramen. Die Polizei will es nicht sehen. Stattdessen wieder: Schreie.
Schreiende Beamt*innen
Er packt das Messer in die linke Hand. Die Spitze zeigt zu Boden. Der Arm ist locker angelegt. Er krempelt sein Hemd hoch, zeigt den Polizist*innen die Innenseite der Arme: Will er sich die Pulsadern aufschneiden? Er hopst ein wenig. Die Beamt*innen schreien.
Dann beschließen sie, Idrissi mit Pfefferspray zu besprühen. Das bringt ihn dazu, loszurennen, panisch, eine Flucht. Der Polizist, der diese provoziert hat, indem er mit der Linken den Sprühknopf der Reizgas-Dose betätigt, hat mit der Rechten schon zur Pistole gegriffen und sie entsichert, um Notwehr zu üben: Er schießt. Und er trifft.
„Auch wenn der Täter den Angriff auf sich lediglich leichtfertig provoziert hat“, hat der Bundesgerichtshof 2019 in der Frage der herbeigeführten Notwehr entschieden, „darf er von seinem grundsätzlich gegebenen Notwehrrecht nicht bedenkenlos Gebrauch machen und sofort ein lebensgefährliches Mittel einsetzen“. Außer er ist Bremer Polizist.
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