Erinnerungspolitik im fränkischen Land: Schönes Dorf, dunkle Kapitel
Unser Autor kehrt in seine Heimat in Franken zurück: schön, gesittet, kaum Stimmen für die AfD. Auch die Opfer der Shoah scheinen längst vergessen.
Wer an einem warmen Spätsommerabend durch die verwinkelten Gassen schlendert, vorbei an beeindruckenden Bürgerhäusern, jahrhundertealten Weingütern, dem Rathaus und dem Schloss aus der Renaissance, der fühlt sich ein wenig in die Toskana versetzt.
„Ich bin Bürgermeister im Paradies!“ Mit diesen Worten begrüßt mich Wilfried Saak im Hof des Restaurants Sonnenhöfle. Bei einem Glas goldglänzenden fränkischen Weißweins überzeugt mich der Dorfvorsteher: Wer hier lebt, der hat das große Los gezogen. Hier ist alles überdurchschnittlich – das Einkommen, die Wohnfläche pro Person, die Steuereinnahmen. Und hier funktioniert auch alles: der öffentliche Nahverkehr, die ärztliche Versorgung, das Zusammenleben. Unterdurchschnittlich ist hier nur die Zahl der Arbeitslosen, ganze 20 sind es im Schnitt im Jahr, und die Zahl der Sozialhilfeempfänger geht gegen null.
Bei der letzten Landtagswahl 2018 in Bayern haben landesweit 10,2 Prozent für die AfD votiert, Von den 1.552 wahlberechtigten Sommerhäusern gerade mal 4,9 Prozent. Auch Aiwangers Partei blieb hier weit hinter dem Bayernschnitt zurück. Stattdessen erreichte die gesittete Bürgerlichkeit fast eine Zweidrittelmehrheit mit 43,5 Prozent für die CSU und knapp 20 Prozent für die Grünen. Die Sozialdemokraten landeten abgeschlagen bei 11,9 Prozent.
Anständig, aber keine Erinnerung an die Shoah
Am Tag, als ich mit Bürgermeister Saak im Sonnenhöfle sitze, hat die Süddeutsche Zeitung die Berichterstattung zum Aiwanger-Flugblatt gestartet. Und damit eine Debatte zu der Frage eröffnet: Wie steht es in Bayern um die Erinnerungspolitik? Ich bin in meinen Geburtsort zurückgekehrt, um einem Paradox nachzuspüren. Wie kommt es, dass in diesem anständigen Dorf, in dem die AfD so wenig Stimmen erzielt, wie sonst kaum irgendwo in Bayern, bis heute so gut wie nichts an die Sommerhäuser Opfer der Shoah erinnert? Was sind die Quellen des Vergessens und des langen Schweigens?
Eine mögliche Antwort findet sich im Vereinshaus der Gräflichen Schützengesellschaft Sommerhausen. Mit vierzehn Jahren war ich hier Mitglied. 1970 erschoss ich mir das bronzene, dann das silberne Schützenabzeichen. Und an manchen Abenden schoss ich mir stundenlang die Langeweile des Dorfes aus dem Leib. Dann kam das Kiffen und der Rock ’n’ Roll, dann der Abschied von dieser ehrenwerten Gesellschaft, dann die Kriegsdienstverweigerung und die Flucht nach Berlin.
Ich stehe vor verschlossenen Türen. Das letzte Mal besuchte ich das Schützenhaus 2014. Damals herrschte ausgelassene, fröhliche Stimmung. Unter einer übergroßen Schützenscheibe, gestiftet 1952 von Schützenmeister Georg Schmitt, wird an diesem Kirchweih-Abend viel geschunkelt, getrunken und geschwitzt.
Seit Generationen hängt die Scheibe im Schankraum. Zeugnis eines radikal rechten Geschichtsverständnisses. Um das Porträt des kahlköpfigen, gut genährten Stifters, Schützenmeister Georg Schmitt, sind acht kreisrunde Bilder drapiert, die Stationen der Jahre 1938 bis 1951 zeigen. Das erste ist den Jahren 1938 bis 1944 gewidmet. Es zeigt Deutschland in den Grenzen von 1938 – inklusive Österreich und Tschechien. Das Bild für das Jahr 1945 zeigt ein von hohem Stacheldraht umzäuntes Barackenlager mit Wachturm. Der Kommentar dazu lautet „Ein Volk geht ins Lager“. Das Bild zum Jahre 1946 zeigt eine Papierrolle mit dem Aufdruck Fragebogen. Der Kommentar lautet: „Deutsche richten über Deutsche.“
Täter-Opfer-Umkehr beim Feuerwehrfest 1954
Vor mir liegt ein altes Foto, aus dem Nachlass von Schützenbruder Hermann F. Aufgenommen anlässlich eines Feuerwehrfestes im Jahr 1954. Es zeigt sieben Herren mit Maßkrügen vor sich. Es sind die Dorfhonoratioren, die das Geschäft der Täter-Opfer-Umkehr betrieben. Sie bestimmen, was und wie im Dorf erinnert wird. Als das „Ehrenmal“ für die Gefallenen der Kriege 1870/1871, des ersten und des zweiten Weltkriegs im November 1961 eingeweiht wird, hält Schützenbruder Karl H. eine geschichtsvergessene Festrede. Auf den Bronzetafeln fehlen die Namen der zwei jüdischen Sommerhäuser, die 1918 gefallen sind – Karl Strauss und David Stahl. Die Brüder von David, Karl und Lazarus Stahl, hochdekorierte Teilnehmer des ersten Weltkriegs, wurden 1944 in Auschwitz ermordet.
Der Geschichtsrevisionismus geht Hand in Hand mit einem rigiden Erziehungssystem. Bis Ende der sechziger Jahre sind die Kinder Sommerhausens der verrohten Dorfelite ausgeliefert. Ihre Gefühlskälte und ihr Menschenbild geben sie mit Gewalt an die nächste Generation weiter. Pfarrer und Lehrer verprügeln ihre Schüler. Die Kindergärtnerin fixiert Kinder mit Riemen an Stühle, sperrt Fünfjährige in Kohlenkeller und lässt diese glauben, dass dort der Teufel wohnt und der Eingang zur Hölle ist. Das ist normal. So normal wie der angesehene Bauer, ein ehemaliger SS-Mann, der seine pubertierende Tochter in der Küche ankettet, damit sie dort arbeiten, aber nicht zum Spielen auf die Straße kann, während die Eltern auf dem Feld arbeiten.
In dieser Dorfgemeinschaft ist kein Platz für Mitgefühl. Schon gar nicht für die Opfer der Shoah. Wer in diesen Jahren in Sommerhausen aufgewachsen ist, hat nichts über die 400-jährige Geschichte der Sommerhäuser Juden erfahren. Dafür viel Gutes über Adolf Hitler. Fragten Heranwachsenden dann doch einmal die Großeltern, wo denn die Juden abgeblieben seien, die zu einer Synagoge gehörten, wurde ihnen mit den Worten geantwortet: „Die? Die sind fort.“
In der 1970 erschienen 418-seitigen Chronik „Sommerhausen in Wort und Bild“, die Bibel der Dorferinnerung, wird diese Geschichte auf zwei dürftigen Seiten abgehandelt. Kein Wort über die jüdischen Weinhändler, die Handwerker, die Rabbis, die Lehrer der jüdischen Schule, die Mikwa. Bis zu zehn Prozent der 1.200 Dorfbewohner waren im 19. Jahrhundert Juden. In welche Häusern sie lebte, wie sie hießen, was sie dachten? Ihre Spuren sind verwischt.
Erstmal seit 200 Jahren ein Zugezogener als Bürgermeister
Erinnerungspolitik, das bedeutet in Sommerhausen etwas anderes. Gedacht wird vor allem Franz Daniel Pastorius. 1651 hier geboren, gründete er 1683 die erste deutsche Siedlung in Amerika. 1688 ist er für die erste von einem Weißen verfasste Protestnote gegen die Sklaverei verantwortlich. Auszüge daraus schmücken heute die Probierstube des Weinguts Artur Steinmann, die von der Gleichheit aller Menschen künden.
Das Dorf hat sich verändert. Aus 1.400 Einwohnern meiner Kindheit wurden 2.000. Die neuen Sommerhäuser, das sind Besserverdienende, häufig Akademiker. 2020 kommt es zu einer kleinen Revolution. Erstmals seit 1818 wird mit Wilfried Saak ein Bürgermeister gewählt, der nicht aus einer alteingesessenen Winzerfamilie stammt oder Ur-Sommerhäuser ist.
2020 werden am Volkstrauertag erstmals die Namen der acht Sommerhäuser verlesen, die 1933 noch im Ort lebten und in der Shoah ermordet wurden. Eine Liste, die das Johanna-Stahl-Zentrum erstellt hat, eine Initiative aus Würzburg, die die Geschichte der unterfränkischen Landjuden erforscht. Der Vater der Namensgeberin, die 1943 in Auschwitz ermordet wurde, entstammt einer alten Sommerhäuser Familie.
Laut Yad Vashem in Jerusalem sind 35 Jüdinnen und Juden, die in Sommerhausen geboren wurden oder einen Teil ihres Lebens hier verbrachten, der Vernichtungspolitik zum Opfer gefallen. Ein Mahnmal für die Namen der Ermordeten gibt es nicht. Und das in einem Dorf, das den Toten der drei Kriege seit 1871 drei Denkmale errichtet hat. Das letzte und größte 1961 zur Ehre und zum Ruhme der gefallenen Teilnehmer am Vernichtungskrieg der Jahre 1939 bis 1945.
Eine 83-Jährige recherchiert im Privaten
Hausbesuch bei Inge Eilers. Seit 2020 recherchiert die 83-Jährige, die seit 1967 in Sommerhausen lebt, zur jüdischen Geschichte. Weil sie nicht abschätzen kann, wie die Dorfbewohner auf ihre Forschungen reagieren, ermittelt sie zunächst verhalten, ohne dies öffentlich zu machen. Bis sie zwei Sommerhäuser kennenlernt, die ebenfalls im Stillen Material zusammentragen. Das 75 Jahre lange Schweigen bekommt nun Risse. Ein Winzer hat in den letzten Jahren vor seinem Tod einen Dorfplan erstellt, in dem er die Häuser einzeichnete, welche in den zurückliegenden 200 Jahren in jüdischem Besitz waren. Inge Eilers hat inzwischen die Besitzverhältnisse zu diesen Namen recherchiert. Material, das der Veröffentlichung harrt.
Und die Ausnahme von der Regel? Die Eigentümerin des Hauses gegenüber der ehemaligen Synagoge hat eine Messingplatte an der Fassade angebracht, sie erinnert an die einstige jüdische Besitzerin, Hannchen Dorn, die 1936 nach New York emigrierte.
Zurück in Berlin schreibe ich dem Vorstand des gräflichen Schützenvereins und frage, ob die Schützenscheibe von Georg Schmitt immer noch am alten Platz hängt. Die telefonische Antwort: „Wir haben den Schankraum vor vier Jahren ein wenig umgestaltet, die Scheibe hängt nun im Büro des Vorstands.“
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