Erinnerungen an Tage mit Schnee: Früher war mehr Winter. Oder?
Unser Autor hat das Gefühl, dass in seiner Kindheit andauernd Schnee lag. Immer war alles weiß. Nun hat er überprüft, ob es stimmt.
Wäre ich jetzt das Kind, das ich einst war, dann würde ich schon abends beim Insbettgehen den Schnee herbeisehnen, und am nächsten Morgen würde ich als Erstes aus dem Fenster gucken, und sehr wahrscheinlich wäre der Garten hinterm Haus und die Straße vor dem Haus weiß bedeckt, die ganze Nacht hätte es geschneit in Eddigehausen, dem Dorf unter der Burg Plesse im Landkreis Göttingen, und ich würde es plötzlich sehr eilig haben, aufzustehen, würde hastig meinen Becher Milch herunterstürzen, ein paarmal ins Marmeladenbrot beißen, um möglichst schnell draußen zu sein, draußen im Schnee.
Und nach der Schule, mittags, würde ich mich wieder beeilen, um bei den anderen zu sein, wieder draußen im Schnee. Wir würden uns die Schlitten schnappen und in den Wald gehen, den Weg neben unserer Wohnsiedlung, dem „Neuen Dorf“, hoch, oben rechts Richtung Bovenden, dann links ab in den Wald. Die beste Rodelbahn, den ganzen Tag über waren wir da, bis abends, wenn es längst dunkel war. Kalt, verfroren, glücklich, zu Hause gab es heißen Kakao.
Oder wir sind durchs Dorf gezogen; einige von uns, die Größeren, hatten aus Holzresten einen Schneepflug gebaut, den wir zogen und schoben, um die Bürgersteige freizuräumen. Natürlich klingelten wir an den Häusern und hofften auf ein paar Mark, bei G.s gab es Pistazien, die waren besonders, er war Perser. Stundenlang waren wir unterwegs, jeden Winter, täglich im Schnee.
War es nicht so, Ende der 70er, Anfang der 80er?
Zumindest in meiner Erinnerung waren die Winter schneereicher und weißer, „streng“, wie es meine Mutter unter die Winterbilder in mein Fotoalbum schrieb. Heute vermisse ich diese Wintertage, hoffe auf Schneefall, tanzende Flocken die ganze Nacht, und morgens ist alles weiß. Ich besuche Wettervorhersageseiten und scanne die Vier-Tage-Vorschau, die wohl noch einigermaßen seriös ist. Und ich sehe dort nur Temperaturen zwischen sieben und zehn Grad und Wolken, die sich vor eine Sonne schieben, manchmal Regentropfensymbole.
Meine Töchter, sieben und zehn Jahre alt, kennen kaum Schnee, der Winter nach der Geburt der älteren war „streng“, zumindest schneereich, 2010, ich weiß es noch, sie nicht. Lange her. Sie wünschen sich Schnee, so wie ich damals. Sie sehnen ihn herbei; die Vorstellung, alles würde weiß sein, muss noch magischer sein für sie, als sie es für mich war. Ich habe ja Schnee erlebt, jeden Winter, sie noch kaum. Aber stimmt das? Und ist das der Klimawandel? Bleibt der Schnee aus, weil es wärmer wird?
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Ich habe beim Deutschen Wetterdienst nachgefragt, die sehr nette Frau Haase und der sehr nette Herr Weiner haben mir Datenreihen geschickt für die Jahre meiner Kindheit und für heute. Damals, als ich Kind war, ist jeden Morgen um sieben einer vom Deutschen Wetterdienst, Messstation Bovenden, rausgegangen und hat die Schneehöhe gemessen.
Und, ja, es gab Tage mit Schnee, aber es gab auch Tage, an denen lag kein Schnee. Dann muss es genauso ausgesehen haben, wie es heute, am 9. Januar 2020, die Plesse-Cam zeigt, die die Gegend von der Burgruine oberhalb des Dorfes aus täglich ablichtet: grün-braun liegt die Feldmark da, dunkel der Wald, die Ziegeldächer rot. Weiß blitzen nur die Fassaden einiger Häuser auf.
Zwar gab es in den zehn Jahren von 1979 bis 1988 insgesamt 654 Tage mit Schneedecke, und in den Jahren 2010 bis 2019 nur 411, aber eben zwischendurch immer, damals wie heute, Wochen, an denen der Wetterdienstmessbeauftragte nichts zu messen hatte.
Meine Erinnerung täuscht ganz einfach; die Tage mit Schnee, die ich mir in den Wintermonaten so gewünscht habe, haben sich zu langen, weißen, „strengen“ Wintern verdichtet. Wunsch und Erinnerung sind eins geworden, unfair gegenüber jedem schneelosen Tag von heute. Der Klimawandel, der auch durch andere Kennzahlen dokumentiert wird, lässt sich daraus aber sicher nicht ablesen, dafür ist der Messort zu klein und der Zeitraum zu kurz, die Schneedeckenlage zu wenig aussagekräftig. Die Temperaturen steigen, auch in Niedersachsen, das zeigen die Daten des Deutschen Wetterdienstes deutlich. Schnee kann jederzeit im Winter wieder fallen. Auf die schneearmen Jahre folgen -reiche. 1979 gab es in meinem Dorf 68 Schneetage, 1989 nur einen.
In der Großstadt, in der wir heute leben, sehen die Winter ohnehin anders aus als damals im Mittelgebirge. Wer weiß, vielleicht fahren wir demnächst einfach mal in die Berge.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin