Entwicklung in Coronapandemie: Zahlen, die Hoffnung machen
Mehr Impfungen und Vorsicht: Anders als prognostiziert, steigen die Corona-Neuinfektionen derzeit nicht. Ob es dabei bleibt, ist allerdings offen.
Es war eine dramatische Kurve, mit der das Robert-Koch-Institut Mitte März an die Öffentlichkeit gegangen ist: Wenn sich die britische Virusvariante mit der bis dahin beobachteten Geschwindigkeit weiter ausbreitet, würde die Inzidenz in Deutschland schon Mitte April weit über 300 liegen, hieß es damals im täglichen Bericht von Deutschlands oberster Gesundheitsbehörde. Andere Expert*innen kamen zu ähnlichen Prognosen: In vielen Medien erschienen Grafiken, die im Lauf des Aprils tägliche Infektionszahlen von über 40.000 zeigten.
Die Realität sieht zum Glück anders aus. Zwar sind die lange fallenden Zahlen ab Mitte März zunächst wie prognostiziert stark angestiegen – innerhalb von nur drei Wochen verdoppelte sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen vor Ostern auf 18.000 am Tag. Doch seitdem hat das Wachstum nachgelassen: Zunächst pendelte der Wert zwei Wochen lang zwischen 20.000 und 21.000, zuletzt war sogar erstmals wieder ein Rückgang unter 20.000 zu sehen. Die bundesweite Inzidenz liegt mit rund 160 nicht mal halb so hoch wie vor Ostern prognostiziert.
Zunächst konnte dieser Effekt noch teilweise mit den Osterferien erklärt werden, in denen nicht nur weniger getestet und später gemeldet wurde, sondern in denen es durch Schulferien und arbeitsfreie Tage auch real zu weniger Kontakten kam. Doch auch nach Ende der Ferien setzte das Wachstum nicht wieder ein.
Das lässt die Frage aufkommen, woran diese vergleichsweise positive Entwicklung liegt. Denn tatsächliche Änderungen bei den Vorschriften hat es in den letzten Wochen kaum gegeben: Die bundesweite Notbremse, die oberhalb einer Landkreisinzidenz von 100 eine nächtliche Ausgangssperre und die Rücknahme vieler Lockerungen sowie spätestens ab einer Inzidenz von 165 Distanzunterricht in Schulen vorschreibt, gilt erst seit dieser Woche und kann die jüngsten Zahlen noch nicht direkt beeinflussen.
Indirekte Wirkung der Notbremse
Doch zumindest indirekt trägt die Notbremse vermutlich doch zur Verbesserung bei. Denn im Zusammenhang mit ihrer Einführung wurde breit über die stark gestiegenen Infektionszahlen und die dramatische Lage auf den Intensivstationen berichtet. „Die Leute haben wieder mehr Angst“, sagt der Physiker Dirk Brockmann von der Humboldt-Universität, der auch für das Robert-Koch-Institut tätig ist, der taz. „Das führt zu bewussterem Handeln.“
Das wird durch die Ergebnisse von Umfragen zum Thema Corona bestätigt, die die Universität Erfurt regelmäßig durchführt: Sie zeigen, dass das gefühlte Risiko in den letzten Wochen deutlich gestiegen ist und wieder fast das Niveau vom Januar erreicht hat. Doch solche freiwilligen Verhaltensänderungen sind schwer vorherzusagen, sagt Brockmann. „Darum werden sie in Prognosemodellen in der Regel nicht berücksichtigt.“
Ein weiterer Faktor, der bei der Entwicklung eine Rolle spielt, sind die Impfungen. Manche Modelle, etwa das vom RKI, hatten den Impffortschritt gar nicht berücksichtigt; andere wie das des Physikers Cornelius Roemer, auf das sich einige Medien bezogen hatten, haben den Effekt zwar einberechnet, aber vermutlich zu gering.
Denn zum einen laufen die Impfungen derzeit schneller als erwartet: Am Mittwoch wurden in Deutschland erstmals mehr als eine Million Menschen geimpft. Mehr als ein Viertel der Bevölkerung hat bereits die erste Impfdosis erhalten, im Juni dürfte es schon die Hälfte sein. Die Virologin Melanie Brinkmann, die schon im Februar einen steilen Anstieg der Infektionszahlen prognostiziert hatte, war damals von einem sehr viel pessimistischeren Szenario ausgegangen: „Bis September ist vielleicht die Hälfte der Bevölkerung geimpft, wenn alles top läuft“, hatte sie dem Spiegel gesagt.
Zudem wird immer klarer, dass die Impfungen früher und besser wirken als zunächst angenommen. Dass alle Impfstoffe gut gegen schwere Covid-19-Verläufe schützen, stand von Anfang an fest, doch inwieweit sie auch gegen Infektionen und Weitergabe des Virus schützen, war zunächst unklar. Inzwischen haben neue Studien gezeigt, dass AstraZeneca und Biontech auch gut vor Ansteckung schützen, und zwar schon nach der ersten Dosis.
In England zeigte eine umfangreiche Analyse, dass das Risiko, sich selbst anzustecken, bereits zwei Wochen nach der Erstimpfung um 65 Prozent verringert war. Und weil bei den Infektionen von Geimpften kaum Symptome und eine geringe Viruslast auftreten, ist das Risiko, dass diese andere infizieren, noch weitaus geringer. „Bereits nach der Erstimpfung geht von den Menschen kein Superspreading-Risiko mehr aus“, sagte der Mediziner und SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach der taz.
Für das Infektionsgeschehen spielen sie damit kaum noch eine Rolle. Und möglicherweise wirken Impfungen sogar noch früher: Lauterbach zufolge hat sich gezeigt, dass die Infektionsgefahr schon drei Wochen vor der ersten Impfung zurückgeht, weil viele Menschen keine Risiken mehr eingehen, sobald sie einen Impftermin haben.
Ein weiterer möglicher Grund für die nicht mehr steigenden Zahlen könnten die Schnelltests sein. Diese haben, nachdem sie kostenlos angeboten wurden, zunächst für etwas höhere Werte gesorgt, weil mehr Infektionen mit leichten Symptomen oder ohne Symptome erkannt wurden, die zuvor unentdeckt blieben.
Inzwischen dürften sie umgekehrt wirken, denn wenn mehr Infektionen erkannt werden und Menschen daraufhin in Quarantäne gehen, sinkt die Zahl der Neuinfektionen. Weil es nach wie vor keine bundesweiten Zahlen zur Nutzung von Schnell- und Selbsttests gibt, ist dieser Effekt aber kaum zu quantifizieren und wird auch in den Modellen nicht berücksichtigt.
Und zuletzt könnte auch das Wetter eine Rolle spielen – denn je besser es ist, desto mehr Kontakte finden im Freien statt. Dieser saisonale Effekt wird in den Modellen teilweise berücksichtigt, aber genau zu quantifizieren ist er kaum. „Alle diese Faktoren dürften eine Rolle spielen“, sagt Modellierer Brockmann. „Aber welcher Effekt wie stark ist, kann man nicht sagen, weil es dazu keine Daten gibt.“
Entsprechend unklar ist, wie sich die Zahlen entwickeln werden: Neue Prognosen gibt es nicht. Klar ist zumindest, dass sich die Wirkung der Impfungen fortsetzen wird. Und davon werden mehr Menschen profitieren als erwartet: Bereits in den Sommerferien könnten auch Kinder ab 12 Jahren geimpft werden, sagte Gesundheitsminister Jens Spahn am Donnerstag. Und im September könne eine Zulassung auch für jüngere Kinder erfolgen, hofft Biontech-Gründer Uğur Şahin.
Vorbild Hamburg
Doch die Impfungen allein werden nicht reichen, um die Zahlen zu senken, warnte RKI-Chef Lothar Wieler am Donnerstag. Entscheidend sei, dass zudem die Zahl der Kontakte weiter sinke. Dabei helfen könnten die nächtlichen Ausgangssperren, die seit dieser Woche in vielen Städten gelten. „Die bringen viel“, sagt Karl Lauterbach mit Verweis auf das Beispiel Hamburgs: Dort gilt schon seit Ostern ein Ausgangsverbot am Abend. Damals hatte das Land im Bundesländervergleich die vierthöchste Inzidenz, inzwischen ist es die zweitniedrigste.
Doch allzu weit dürften die Werte auf diese Weise nicht fallen. Denn während Länder wie Portugal und Großbritannien ihren Lockdown erst beendet haben, als die Inzidenz auf 30 gefallen war, sieht die deutsche Notbremse vor, dass die Beschränkungen zurückgenommen werden, sobald die regionale Inzidenz unter 100 oder im Fall der Schulen unter 165 sinkt.
Spätestens dann dürften die Zahlen also wieder steigen – sofern freiwillige Vernunft, höheres Impftempo und besseres Wetter die Lockerungen nicht kompensieren. Wieler warnte am Donnerstag bereits vor zu großer Sorglosigkeit: „Wir sind erst sicher, wenn alle sicher sind.“
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