Entlassene Gefangene im Westjordanland: Grüne Fahnen in Ramallah
Israel hat im Austausch gegen Geiseln mehr als 200 palästinensische Gefangene entlassen. Im Westjordanland feiern viele das als Erfolg der Hamas.
Etwas abseits steht Raed Dudeen, 47 Jahre alt. Auf dem Arm hält er seine kleine Tochter, an der Hand einen seiner drei Söhne. Gemeinsam wartet die Familie in der klammen Kälte auf Raeds Frau Manal. „Sie wurde vor einem Monat wegen eines Posts auf Facebook festgenommen, seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört“, sagt er. Erst heute Morgen habe ihn der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet angerufen und ihn über die Freilassung informiert. „Ich bin sehr erleichtert, dass sie freikommen soll. Ich mache mir große Sorgen um sie.“
Hamas als Teil des Widerstands
Seit die Hamas im Süden Israels mehr als 1.200 Menschen brutal ermordet und rund 240 Menschen nach Gaza entführt hat, steigt die Zahl der Palästinenser in israelischen Gefängnissen. Razzien der Armee im von Israel besetzten Westjordanland sind an der Tagesordnung. Im Rahmen einer einwöchigen Feuerpause hatten Israel und die Hamas sich auf einen Austausch verständigt. Bis zur Wiederaufnahme der Kämpfe am Freitag kamen so mehr als einhundert Geiseln der Hamas frei. Im gleichen Zeitraum entließ Israel rund 240 gefangene Palästinenser.
In Ramallah schwenken zwischen den gelben Fatah-Flaggen am Dienstagabend auch viele die grüne Fahne der Hamas. Zwei junge Frauen tragen Schals der Miliz. Dass Hamas-Terroristen am 7. Oktober das schlimmste Massaker an Zivilisten in Israels Geschichte verübten? Vor der Turnhalle sehen viele die Taten und die Gruppe als Teil des „palästinensischen Widerstands“. Die hohe Zahl an zivilen Opfern durch israelische Angriffe in Gaza verstärkt diese Haltung noch.
Die Fatah hat wenig zu bieten
Saßen vor dem 7. Oktober rund 5.200 Palästinenser in israelischen Gefängnissen, wurden seitdem laut der palästinensischen Gefangenengesellschaft mehr als 3.000 weitere festgenommen. Für die Wartenden stehen diese Zahlen und die Zustimmung zur Hamas nicht im Widerspruch. Es gehe um die symbolische Bedeutung, sagt der 23-jährige Talal aus Ramallah, der nur seinen Vornamen nennen will. „Endlich gibt es jemanden, der uns beschützt, der für uns kämpft und etwas bewirken kann.“
Dieses Gefühl kann die regierende Fatah den Palästinensern im Westjordanland, das größtenteils unter israelischer Militärverwaltung steht, schon lange nicht mehr bieten. Auch wenn auf dem gelben Banner noch bedrohlich gekreuzte Sturmgewehre prangen – seit die Fatah im Rahmen des Oslo-Friedensprozesses in den 1990er Jahren die Verwaltung der verbliebenen palästinensischen Gebiete übernahm, hat ihre Bedeutung stark abgenommen.
Besonders die Zusammenarbeit mit israelischen Sicherheitsbehörden nehmen ihr viele junge Palästinenser übel. Die Hoffnung auf einen eigenen Staat hat sich nie erfüllt, und Mahmud Abbas, der Fatah-Vorsitzende und Präsident der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA), hat kaum noch Rückhalt in der Bevölkerung.
Fast die Hälfte werde bei der Festnahme verletzt
Als in den vergangenen Jahren die Gewalt durch bewaffnete Siedler stetig zunahm, taten Fatah und PA wenig. Die NGO Save the Children hat im Juli einen Bericht veröffentlicht, dem zufolge zwischen 500 und 1.000 Minderjährige jedes Jahr vom Militär festgenommen werden. 80 Prozent würden in Gewahrsam psychische und physische Gewalt erfahren. Fast die Hälfte werde bei der Festnahme verletzt.
Bereits vor dem Krieg waren 2023 rund 200 Palästinenser von israelischen Soldaten erschossen worden, die höchste Zahl seit Jahren. Israel bezeichnet die meisten der Getöteten als Kämpfer oder Terroristen, immer wieder waren darunter aber auch Unbeteiligte und Kinder.
„Sie haben Jugendliche erschossen, weil sie mit Steinen geworfen haben“, sagt Talal vor der Turnhalle. „Keines der Länder, die jetzt die Hamas kritisieren, hat dazu etwas gesagt.“ Deswegen habe er kein Problem mit der Hamas.
Sie feiern die Kassam-Brigaden
Als der Reisebus des Roten Kreuzes mit den Gefangenen sich nähert, läuft die Menge ihm entgegen. Sie begrüßen die aus der Haft entlassenen Frauen und Jugendlichen mit Jubel und Parolen: „Das Volk steht hinter den Kassam-Brigaden.“ Also dem bewaffneten Arm der Hamas.
In dem Durcheinander der feiernden Menge sucht Raed seine Frau Manal und hält seine Kinder dicht bei sich. Nach einer Viertelstunde findet sich die Familie. Manal, eine kleine Frau mit schwarzem Wintermantel und Kopftuch, weint, als sie ihre jüngste Tochter in die Arme schließt. Fernsehteams drängen sich um die Familie, doch Manal antwortet nur knapp: „Ich hoffe, dass wir vor besseren Tagen stehen und dass alle palästinensischen Gefangenen freikommen.“
UN-Experten bezeichnen die Praxis als „unmenschlich“
Israel hat ausgeschlossen, Häftlinge freizulassen, die Israelis getötet haben. Unter denen, die jetzt freigekommen sind, waren aber einige, die etwa wegen Messerangriffen verurteilt wurden. Dazu zählt die heute 26 Jahre alte Schoruk Dwaiyat, die im Jahr 2015 auf einen 35-jährigen Israeli einstach und ihn verwundete. Anderen Freigelassenen wurde vorgeworfen, Steine und Brandsätze geworfen zu haben.
Die meisten der 350 Personen auf der Liste aber waren ohne Gerichtsurteil im Gefängnis, viele in sogenannter Verwaltungshaft. Diese Praxis erlaubt es israelischen Behörden, Menschen ohne Angabe von Gründen bis zu sechs Monate in Gewahrsam zu nehmen. Die Haftdauer kann beliebig oft verlängert werden.
„Theoretisch soll damit eine künftige Bedrohung abgewendet werden“, sagt Jessica Montell, Vorsitzende der israelischen Menschenrechtsorganisation HaMoked. Praktisch würden israelische Behörden jedoch massenhaft verwenden, um Gerichtsverfahren zu umgehen, besonders wenn sie ihre Informationsquellen nicht preisgeben wollten. UN-Experten haben die Praxis als „unmenschlich“ bezeichnet. Die israelische NGO B’Tselem spricht von einem „groben Verstoß gegen internationales Recht“.
Sie sprengten die Türe auf
Obeida Chalil hat dieses Verfahren hinter sich: Eineinhalb Jahre war er im Gefängnis, ohne dass eine Anklage gegen ihn vorlag. Jetzt ist der 18-Jährige im Rahmen des Gefangenenaustausches freigekommen und seit drei Tagen zurück im Haus seiner Eltern in Silwad, rund 10 Kilometer nördlich Ramallahs.
Ein Holzofen in der Mitte des Raumes vertreibt die Novemberkälte. Um ihn drängen sich Freunde und Geschwister. Immer wieder klingelt Obaida Chalils Telefon, immer wieder kommen neue Gäste, um ihn zu beglückwünschen. „Wir wissen bis heute nicht, was sie ihm vorgeworfen haben“, sagt seine Mutter Badria.
Im Juni 2022 seien am frühen Morgen Dutzende Soldaten am Haus der Chalils erschienen. Sie sprengten die Türe auf, drangen bewaffnet in die Schlafzimmer der Familie ein und durchsuchten die Wohnung. Obaida Chalils Bruder Ahmed zeigt Fotos der verwüsteten Wohnung und wie ein Soldat den Jugendlichen mit gefesselten Händen abführt. Seitdem blieb seiner Mutter nur einmal im Monat ein Besuch.
Die Verurteilungsrate liegt bei 98 Prozent
Die Familie habe einen Anwalt eingeschaltet, ohne Erfolg. „Ich dachte, sie lassen ihn überhaupt nicht mehr frei“, sagt Badria Chalil. Während für Israelis im Westjordanland Zivilrecht gilt, unterliegen Palästinenser dem Militärrecht. Die Richter sind Soldaten. Die Verurteilungsrate liegt laut den Vereinten Nationen bei 98 Prozent – wenn überhaupt Anklage erhoben wird. Jeder fünfte Palästinenser saß bereits einmal in israelischen Gefängnissen.
Die Besucher wissen, was diese Zahlen bedeuten: Einer erzählt von seinem Vater, der ebenfalls ohne Angabe von Gründen in Haft sei. Ein anderer sagt, er sei nach einem Streit mit einem Siedler 40 Tage festgehalten worden. Ein Dritter möchte von dem Freigelassenen wissen, ob er seinen Bruder im Gefängnis gesehen habe. Seit dem 7. Oktober habe er nichts mehr von ihm gehört.
Gerüchte über die bevorstehende Freilassung
„Sie haben uns schon am Morgen des Angriffes alles abgenommen“, sagt Obeida Chalil. Fernseher, Radios, jeden Zugang zur Außenwelt. Informationen kamen nur durch neue Häftlinge in die Zellen und durch einen, der es geschafft hatte, ein kleines Radio zu verstecken.
Irgendwann kamen Gerüchte auf, dass eine Freilassung bevorstehen könnte. „Als sie mich rausgeholt haben, habe ich ihnen nicht geglaubt“, sagt Obeida Chalil. Er dachte zunächst, es sei ein Verhörtrick, um ihm Informationen zu entlocken. „Erst als ich die Treppen zum Haus hochstieg und meine Geschwister gesehen habe, konnte ich es glauben.“
Israel macht die Hamas stärker
„Ich bin so glücklich, dass mein Sohn zurück ist“, sagt seine Mutter. Doch es mache sie traurig, wie viel Blut dafür vergossen worden sei. Der Krieg in Gaza gehe weiter. Und auch im Westjordanland nehme die Gewalt zu. „Die Armee macht mehr Razzien, und natürlich gehen viele Jugendliche raus und werfen Steine. Dann wird geschossen, es gibt eine Beerdigung, und die Armee kommt noch häufiger.“
Obeida Chalils Bruder Ahmed schaut aus dem Fenster auf die Lichter des Dorfes. In fast jedem der Häuser sei ein Familienmitglied verletzt oder getötet worden oder sitze im Gefängnis. „Die Israelis wollen die Hamas auslöschen“, sagt er. „Aber im Westjordanland machen sie sie gerade stärker“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Der alte neue Präsident der USA
Trump, der Drachentöter
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens