Energiekrise in Deutschland: Stresstest für die Grünen
Dass Wirtschaftsminister Robert Habeck zwei AKW in Reserve halten will, müssen einige Grüne erst mal verdauen. Zum Aufstand kommt es aber nicht.
Einerseits. Andererseits: Immerhin werde erst mal nichts aus dem Streckbetrieb. Immerhin habe Habeck klargemacht, dass er über den Winter hinaus nicht am Ausstieg rütteln werde. Und immerhin hätten ihm Union und FDP ordentlich Druck gemacht. „Wir werden die Kröte Reservebetrieb wahrscheinlich schlucken“, sagt von Oppen. Für den Parteitag Mitte Oktober hatte ihr Arbeitskreis einen Antrag gegen Kompromisse bei der Atomkraft vorbereitet. Was sie nun damit machen, müssen die Mitglieder erst noch beraten. Auf volle Breitseite gegen Habeck und die Parteispitze wird es aber kaum rauslaufen.
Zwar gibt es auch Basismitglieder, die am Dienstag wütender klingen als von Oppen. Wieder andere sind sich noch nicht sicher, was sie von der neuesten Volte halten sollen – schließlich liegt der Vorschlag des Reservebetriebs erst seit Montagabend auf dem Tisch. Dennoch: Der große Show-Down bei den Grünen, für den Fall von Zugeständnissen beim Atomausstieg von vielen vorhergesagt, könnte ausfallen.
Es hätte anders ausgesehen, wenn die Spitzen-Grünen aus dem Ergebnis des Atom-Stresstests die Notwendigkeit abgeleitet hätten, die drei verbliebenen deutschen Kraftwerke ohne Wenn und Aber länger am Netz zu lassen. Robert Habeck selbst hätte mit so einem Streckbetrieb womöglich keine großen Probleme gehabt. Seine Grünen hätten ihm aber – anders als bei anderen unbequemen Entscheidungen der letzten Monate – die Gefolgschaft versagen können.
Skepsis hinter den Kulissen
Während des Wartens auf das Stresstestergebnis grummelte schließlich nicht nur die Parteibasis. Prominente Grüne wie Jürgen Trittin sprachen sich öffentlich gegen längere Laufzeiten aus. Hinter den Kulissen klangen auch andere Spitzen-Grüne skeptisch. Der Kompromiss namens Reservebetrieb dagegen sorgt jetzt für wenig Aufregung.
Konstantin Kuhle (FDP), Bundestagsfraktionsvize
Mit der Fraktions- und Parteiführung war der Vorschlag ohnehin abgestimmt. Als Habeck am Montagnachmittag auch die grünen Bundestagsabgeordneten informierte, war deren Reaktion überwiegend verständnisvoll. In einer Videokonferenz mit Landes- und Europapolitiker*innen am gleichen Tag gab es dem Vernehmen nach etliche fachliche Nachfragen, aber ebenfalls keinen Aufstand. Die Stimmung wird als konstruktiv bezeichnet. Öffentliche Einwände gegen den Reserveplan aus den eigenen Reihen? Fehlanzeige.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Wahrscheinlichkeit, dass die Kraftwerke aus der Reserve tatsächlich wieder hochgefahren werden, sehr gering ist. Der Bundestag stimmt dem Modell zufolge dem Weiterbetrieb nur für den Fall zu, dass Extrembedingungen wirklich eintreten und die Netzstabilität konkret gefährdet ist. Beim Streckbetrieb hätte er dagegen einen Freifahrtschein ausgestellt; die AKWs hätten auch dann weiterlaufen können, wenn der Worst Case gar nicht erfüllt ist. Dass dieses Szenario abgewendet ist, reicht vielen Grünen jetzt aus.
Während der Kompromiss nach innen den Frieden wahrt, sorgt er allerdings von außen für Ärger. Einerseits von den Umweltverbänden: Der Reservebetrieb sei „unnötig und ignoriert Sicherheitsrisiken“, sagte am Dienstag BUND-Chef Olaf Bandt. Seine Organisation prüft jetzt rechtliche schritte. Von der anderen Seite schießen sich Atomkraft-Befürworter*innen weiter auf die Grünen ein.
Union ganz nah an den Liberalen
Sogar innerhalb der Ampel: Der FDP geht die Habeck-Lösung lange nicht weit genug. Sie fordert einen Weiterbetrieb aller drei AKWs bis mindestens 2024. Habeck müsse sich „gegen die Ideologen in seiner Partei durchsetzen“, schrieb Bundestagsfraktionsvize Konstantin Kuhle auf Twitter. Fraktionschef Christian Dürr betonte mehrfach, dass ein Weiterbetrieb nötig sei, um den Strompreis zu senken.
Ganz nah sind die Liberalen damit bei ihrem ehemaligen Lieblingspartner, der Union. Auch sie kritisiert Habecks Entscheidung erwartungsgemäß scharf. Der Vorwurf: ideologiegetriebene Politik. „Deutschland steuert auf eine massive Energieversorgungskrise zu, ausgelöst durch den Krieg in der Ukraine, verschärft durch völlig absurde Entscheidungen dieser Bundesregierung“, sagte Parteichef Friedrich Merz im Deutschlandfunk. Der Vizekanzler habe „um sich drumherum im Ministerium und in seiner Partei eine Gruppe von harten, grünen Ideologen, die – koste es, was es wolle – aus der Atomenergie aussteigen wollen.“
All das hat sicherlich auch mit Niedersachsen zu tun. Dort wird im Oktober ein neuer Landtag gewählt. Nirgendwo sonst sind die Grünen so tief in der Anti-AKW-Bewegung verwurzelt wie hier. Kaum ein anderer Landesverband sah einen möglichen Streckbetrieb so kritisch.
Union und FDP orakeln nun, es sei dem Wahlkampf der Grünen geschuldet, dass das AKW Emsland im niedersächsischen Lingen anders als die Kraftwerke Isar 2 und Neckarwestheim 2 dauerhaft vom Netz gehe und nicht in den Reservebetrieb.
Lieblingsthemen im Wahlkampf
Dabei gibt es durchaus inhaltliche Gründe. Auf die verweist umgehend der amtierende SPD-Ministerpräsident Stephan Weil: Wenn der Stresstest zeige, dass die Versorgungsengpässe im Süden drohten, sollten sie auch dort kompensiert werden – Niedersachsen sei eben bei den Erneuerbaren Energien deutlich besser aufgestellt als Bayern oder Baden-Württemberg. Lingen müsste ohnehin schon im November in den Streckbetrieb gehen, weil die Brennstäbe nicht weiter reichen.
Doch auch die niedersächsische FDP scheint nicht bereit zu sein, eines ihrer Lieblingsthemen im Wahlkampf einfach so ziehen zu lassen. Als „nicht nachvollziehbar“, bezeichnet Spitzenkandidat Stefan Birkner die Entscheidung gegen das AKW Emsland. Der geplante Notbetrieb sei unrealistisch und technisch nicht machbar. Nötig seien Laufzeitverlängerungen für alle drei AKW auch im Hinblick auf die Preisentwicklung.
Auf die Preise habe der Weiterbetrieb kaum einen nennenswerten Einfluss, konterte die Grünen-Spitzenkandidatin Julia Willie Hamburg. Abgesehen davon bemüht auch sie sich jetzt erkennbar, der eigenen Basis den Habeckschen Lösungsvorschlag schmackhaft zu machen – und ihn gleich noch ein Stückchen kleiner zu reden: Nur „unter extremen, sehr unwahrscheinlichen Voraussetzungen könnte die Netzstabilität in Süddeutschland gefährdet sein“, sagt sie. Zwei Kraftwerke in Reserve zu halten sei eine verantwortliche Vorsorge, „wenngleich wir sie am Ende sehr wahrscheinlich nicht brauchen werden“.
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