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Ende des 9-Euro-TicketsUmsonst und gut so

Hinter der Empörung über „Gratismentalität“ verbirgt sich ein Weltbild. Menschen sollten zu der Forderung nach kostenloser Mobilität stehen.

Ein Regionalzug in der Nähe von Werheim: Wie wollen wir leben? Foto: Michael Probst/ap

W as bleibt vom 9-Euro-Ticket? Viel Gutes. Aber auch eigenartige Wortmeldungen wie die von Finanzminister Christian Lindner (FDP). Von „Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen“ sei er im öffentlichen Nahverkehr nicht überzeugt, sagte der bekanntlich. Viele empörten sich darüber. So ein Satz von so einem Mann, der selbst auf Kosten von Steu­er­zah­le­r:in­nen durch das Land fährt. Und überhaupt: Was ist eigentlich mit dem Dienstwagenprivileg? Auf den ersten Blick berechtigte Aufregung. Aber es hilft, sich über den ersten Reflex hinaus mit Lindners Vorwurf auseinanderzusetzen. Welches Weltbild steht dahinter? Und welches steht hinter der Empörung über Lindner?

Man läuft durch die Stadt, es stehen Menschen vor einem Laden in einer Schlange und man fragt sich: Gibt es da etwas umsonst? Wer nicht den Impuls verspürt, zu dieser Schlange zu gehen und wenigstens einmal eine wartende Person zu fragen, worauf sie denn wartet, der lügt – oder dessen Leben gestaltet sich wegen zufällig glücklichen finanziellen Umständen längst postmateriell. Von den Normalsterblichen stellen sich dann manche tatsächlich hinten an. Andere neigen dazu, gegen den Impuls anzukämpfen: Auf gratis bin ich doch nicht angewiesen! Was ich brauche, kaufe ich mir mit dem Geld, für das ich gearbeitet habe! Ich bin doch kein Schnorrer!

So gesehen offenbart die Diskussion über den unqualifizierten Einwurf Lindners im letzten 9-Euro-Ticket-Monat nicht nur dessen Weltbild, sondern auch jenes hinter der Empörung über ihn. Wieso fühlen sich Menschen von dem Ausdruck „Gratismentalität“ beleidigt? Wieso sagen sie nicht selbstbewusst: Ja, genau, gratis soll Mobilität für alle sein und das ist auch gut so! Weil es eine politische Lager übergreifende, alltäglich praktizierte und als naturgegeben empfundene Überzeugung ist, dass alles einen Preis hat, auch die Erfüllung menschlichster Bedürfnisse: Mobilität, Nahrungsmittel und Wohnraum sind nun mal Waren, die man sich durch Lohnarbeit erst einmal verdienen muss.

Akute Symptome

Dass dieses Konzept kein unveränderliches Naturphänomen ist, sieht man auch an seiner Dysfunktionalität: Viele Menschen arbeiten und können ihre Grundbedürfnisse trotzdem nicht oder nicht ausreichend befriedigen. Das ist nicht erst seit der gegenwärtigen Energie- und Preiskrise so – aber in der Krise werden die Symptome akuter und dadurch sichtbarer.

Bei politischen „Experimenten“, wie das 9-Euro-Ticket gerne bezeichnet wird, wobei das Wort „Experiment“ die Distanz des Sprechers zur Idee unterstreichen soll, geht es deshalb um mehr als einen klimapolitischen Anreiz oder eine punktuelle finanzielle Entlastung. Auch wenn die Folgen noch nicht sichtbar sind – die Diskussion über das „Experiment“ wirkt sich jetzt schon auf die umkämpfte Frage aus, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen.

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Volkan Ağar
Redakteur taz2
Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.
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11 Kommentare

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Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • taz: "Von „Gratismentalität à la bedingungsloses Grundeinkommen“ sei er (Finanzminister Christian Lindner) im öffentlichen Nahverkehr nicht überzeugt."

    Ein BGE und ein kostengünstiger öffentlicher Nahverkehr geht für den wirtschaftshörigen Lindner überhaupt nicht, denn das BGE würde den Bürgern endlich die Angst nehmen, vor Hunger, vor Obdachlosigkeit und der Bevormundung durch die Bundesagentur für Arbeit/Jobcenter, die mit § 10 SGB II arbeitslose Menschen in den Niedriglohnsektor zwingen; und ein kostengünstiger ÖPNV gefährdet die Gewinne der klimazerstörenden Autoindustrie und die Gewinne der Mineralölkonzerne. Greta Thunberg sagte „Deutschland ist ein Klima-Schurke“, während der neoliberale Lindner sagte „Von Kindern und Jugendlichen kann man nicht erwarten, dass sie bereits alle globalen Zusammenhänge, das technisch Sinnvolle und das ökonomisch Machbare sehen“. Lindner gehört mit seinen Ansichten in die 1950er Jahre des 20. Jahrhunderts, aber nicht mehr in die Welt des 21. Jahrhunderts, wo es um das Klima und die Zukunft der jungen Menschen geht und nicht um noch mehr klimaschädliches Wirtschaftswachstum.

    Soziale Klimapolitik (dazu gehört ein günstiges Bahn- und Busticket, und irgendwann auch einmal ein BGE) muss endlich "auf den Tisch", dann könnte man in Deutschland - in Anbetracht von 10 Millionen Niedriglohnempfängern, 5 Millionen Hartz IV Empfängern, arme Rentner und steigende Kinderarmut - auch mal wieder von Menschenwürde (Art. 1 GG) reden. Und wenn man wirklich eine Mobilitätswende schaffen möchte, denn der Klimawandel "spaßt" nicht, dann brauchen wir jetzt und sofort einen günstigen ÖPNV, und zwar einen der auch von armen Menschen bezahlt werden kann. Aber mit der "Freiheitspartei" der Reichen und Mächtigen ist das alles nicht zu machen.

  • > der lügt – oder ... postmateriell.



    Wir haben weder DDR noch 1947. Also dritte Möglichkeit:



    Ganz sicher gibt es bei keiner dieser Schlangen etwas notwendiges und mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit auch nichts, das ich haben wollte, egal zu welchem Preis. Was kann es denn schon sein? Ich sehe die Geschäfte, vor denen sich in Köln solche Schlangen bilden. Wenn nicht das neueste Iphone (eher nicht, um drei Uhr morgens bin ich selten unterwegs) dann ist es ein anderer vollkommen irrelevanter Modeschnulli, den ich nicht einmal gegen Schmerzensgeld annehmen wollte.



    Und ja, ich komme wirklich aus einem Elternhaus, in dem Geld nie eine Rolle spielte. Einmal waren wir nicht arm, aber mehr noch deshalb, weil unnötiger Luxus, der keinen sinnvollen Zweck erfüllt, ohnehin indiskutabel war. So ist es bis heute geblieben.



    > Mobilität, Nahrungsmittel und Wohnraum sind nun mal Waren, die man sich durch Lohnarbeit erst einmal verdienen muss.



    Nein, es sind Dinge, die ein anderer mit Aufwand, mit Arbeit und auch mit Geld erst einmal bereitstellen muß, bevor sie da sind. Was nichts kostet, ist auch nichts wert und wird auch so behandelt -- sieht man viel zu oft und viel zu flächendeckend, um es ignorieren zu können.

    • @Axel Berger:

      was nichts kostet, ist nichts wert und wird auch so behandelt: du meinst, so wie all die Billiglohnkräfte?

      Und in deinem wohlhabenden Quartier gibt es offenbar auch keinen Tafelladen, wo auch regelmäßig Menschen Schlange stehen( kleiner Tipp: da gibt es die Modeschnullis von vorgestern, mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum, für Menschen wie mich, die sich das frische Essen im Supermarkt nicht mehr leisten können und das Menschen wie du lieber wegschmeißen, als verschenken würden.)

      • @Palastexistenz:

        Den Billiglohn meinte ich zwar nicht, aber er ist ein gutes Beispiel, das mein Argument betätigt und ein Grund für einen angemessenen Mindestlohn.



        An Schlangen vor Tafeln bin ich tatsächlich noch nicht vorbeigekommen, aber das sind auch sicher nicht die, bei denen Herr Agar stehenbleibt und fragt, was es tolles gäbe. Lebensmittel werfe ich fast nie weg und wenn sind sie wirklich und zweifelsfrei schlecht. Nur Abgelaufenes esse ich oft.

  • Ja Herr Lindner fährt auf unsere Kosten durchs Land. Das ist ungefähr so skandalös wie die Wagenknechtsche Hummeraffäre oder Gretas Atomzuneigung. Apropos Nahrungsmittel. Gute Idee. Ich plädiere für kostenlose Demeterprodukte für alle. Das brächte doch mehr fürs Klima als Reisen nach Sylt.

  • Die Preisbildung in einer Marktwirtschaft hat einen Zweck der durchaus im Interesse aller liegt, nämlich die optimale Allokation von Ressourcen. Auch Nahverkehrszüge verbrauchen Ressourcen (Fläche, Strom, Material, Arbeitskraft, ...).

    Wenn der Staat S-Bahnen kostenlos macht, dann wird es langfristig für viele interessant aus der Stadt ins fernere Umland zu ziehen und zu pendeln. Das persönliche Optimum des Arbeitnehmers verschiebt sich hin zu einem deutlich höheren Ressourcenverbrauch, verursacht durch den staatlichen Eingriff in die Preisbildung des Marktes für Mobilität.

    • @Descartes:

      Wer ins Umland zieht macht meistens Home-Office mittlerweile. Also nichts mit pendeln. Und die optimale Allokation der Ressouercen funktioniert nur mit staatlichen Eingriffen, denn am Markt bilden sich schnell Oligopole/Kartelle und Monopole, da ist dann nichts mehr mit freier Preisbildung. Ergo: Wer nur auf einzelne Bestandteile schaut, verkennt die Komplexität des Ganzen! Das Lernen Sie übrigens im ersten Semester BWL!

  • "Wir" haben uns für erst einmal billiges Gas, für billige fossile Energiequellen entschieden. Wenn wir bereite lassen, dass die Folgekosten der angeblich billigen Energien vergemeinschaftet werden bleibt auch, dass dadurch Löhne und Gehälter niedrig gehalten werden konnten. Weil die Mittel zur Reproduktion geringer sein müssen. Profitiert haben im wesentlichen die Unternehmen, vom billigen Energien selbst und von billigen Arbeitskräften. Das ist jetzt anders, das ist dieser Teil der Krise.

  • Es gibt keinen Gratis-ÖVPN, denn irgendjemand muss immer die Rechnung zahlen. Und wenn es die Steuerzahler sind, und nur die würden es sein, dann kommt das nächste Problem: Kaum/kein ÖVPN auf dem Land aber den in der Stadt mittels Steuern mitbezahlen ist unfair und unsozial.

  • Es gibt viele Städte und Gemeinden mit Nulltarif beim Nahverkehr.



    Z.B. 37 Städte in Frankreich bieten kostenlosen Nahverkehr an, darunter Dunkerque und bald auch Montpellier. Auch Luxemburg und Tallin, die estnische Hauptstadt, bieten kostenlosen Nahverkehr. In Manchester kann man auf drei elektrischen Buslinien umsonst die Stadt durchstreifen. Auch bei uns gab es in vielen Gemeinden kurzzeitige Experimente.



    Hauptsache, wir kommen schnell weg vom Individualverkehr - es sei denn, es ist ein Ackergaul, Drahtesel oder der fliegende Engel vom "Himmel über Berlin".

  • von der Seite hab ich das noch nicht bedacht, Danke!