Ende der Ära Netanjahu als Premier: Neoliberaler Populist
Kein Fortschritt im Friedensprozess und eine gigantische soziale Ungleichheit. Dennoch hinterlässt Benjamin Netanjahu ein ambivalentes Erbe.
Von Beginn seiner Karriere an hat der glänzende Rhetoriker, der bereits von 1996 bis 1999 Regierungschef war, bevor er das Amt 2009 erneut antrat, gewusst, wie er durch Medienauftritte sein Image bestimmen kann. Doch was für ein Land hinterlässt der heute 71-Jährige tatsächlich?
Netanjahu hat sich in den letzten Jahren immer stärker in Richtung eines autoritär herrschenden Populisten entwickelt – und das Land dabei mitgezogen. Seine Herrschaft hat er in Frontstellung zu der von ihm verhassten israelischen Linken aufgebaut und die Medienwelt nach rechts gerückt, etwa indem er in allen Medien rechtsgerichtete Netanjahu-Loyalisten unterbrachte.
Unter anderem wegen Absprachen mit dem Herausgeber einer der größten israelischen Tageszeitungen steht er aktuell wegen Korruptionsverdachts vor Gericht. Es war das erste Mal in der israelischen Geschichte, dass ein amtierender Regierungschef angeklagt wurde. Im Falle einer Verurteilung droht ihm eine mehrjährige Gefängnisstrafe.
Nicht nur Hetze gegen die Medien und die kulturelle Elite, sondern auch gegen die Polizei, die Staatsanwaltschaft und das Justizsystem standen bei Netanjahu auf der Tagesordnung und erschöpften sich nicht in Rhetorik. Anfang Mai, als er selbst noch versuchte, eine Regierung zu bilden, bemühte er sich etwa, ein Gesetz durchzubringen, das der Knesset erlauben würde, das Oberste Gericht zu überstimmen.
Neoliberale Politik
Für die Rechten gilt Netanjahu als derjenige, der Israel ökonomischen Aufschwung beschert hat. Seine Fans sprechen von dem hohen Lebensstandard in Israel; der IT-Bereich boomt. Durch seine neoliberale Politik der Privatisierung ist jedoch die Schere zwischen arm und reich so groß geworden wie nie zuvor in der Geschichte Israels.
Die Folge seiner Politik sind erdrückende Lebenshaltungskosten und unerschwingliche Immobilienpreise für die Mittelschicht. Leiden musste sein Image in der Coronakrise, als sich von den harten und langen Lockdowns in Israel schwer geschädigte Unternehmer*innen zu den Anti-Netanjahu-Protesten auf der Straße gesellten.
Doch geschickt nutzte er den Erfolg der schnellen Impfkampagne für sich und seine Person und konnte kurz vor der Parlamentswahl im März als „Retter der Nation“ noch einiges an Popularitätsverlust wieder wettmachen.
Den Friedensprozess mit den Palästinenser*innen hat Netanjahu derweil zu Grabe getragen. So beschreibt es zumindest die israelische Tageszeitung Haaretz, die Netanjahu als „Bestatter der Zweistaatenlösung“ bezeichnete.
Unwillig hatte er 2013 noch an von den USA initiierten Friedensverhandlungen teilgenommen. Gleichzeitig jedoch setzte er den Siedlungsbau und die Ausweitung der israelischen Kontrolle über das Westjordanland fort.
Ab 2019 forderte er dann offen die Annexion von Teilen der besetzten Gebiete. Die Unterstützung für eine Zweistaatenlösung sank unter den Israelis während seiner Amtszeit stark: um fast 30 Prozentpunkte auf nur noch 44 Prozent.
Normalisierung mit arabischen Staaten
Dennoch feierte sich Netanjahu ab 2020 als Friedensbringer, und zwar angesichts der vom damaligen US-Präsidenten Donald Trump ausgehandelten Normalisierungsverträge mit den Vereinigten Arabischen Emiraten und Bahrain, die er im September 2020 vor dem Weißen Haus unterschrieb.
Kritiker*innen in Israel merkten an, dass man Frieden mit Feinden mache und dass ein Hauptanliegen der Golfstaaten sei, an hoch entwickelte Waffen zu kommen. Auch seien die Entwicklungen nicht auf Netanjahus persönliche Leistung zurückzuführen, sondern auf Veränderungen auf der politischen Landkarte, vor allem den für die Golfstaaten bedrohlichen Einfluss Irans in der Region einzudämmen.
Die Normalisierungsvereinbarungen mit den VAE und Bahrain, denen Absichtserklärungen auch mit Marokko und Sudan folgten, haben Israel eine verbesserte Sicherheitssituation beschert, derer sich Netanjahu rühmt. Allerdings ist es nicht ausgeschlossen, dass unter dem neuen Duo Biden/Bennett weitere Länder folgen.
Ambivalentes Erbe
Netanjahus Image als „Mr. Security“ kann angesichts der Raketen, die in seiner Amtszeit von Gaza aus auf Israel geschossen wurden, angesichts der sogenannten „Messer-Intifada“ 2015, bei der 47 Israelis getötet wurden, und angesichts der Gewaltausbrüche zwischen jüdischen und palästinensischen Israelis im Mai nur als Mythos bezeichnet werden.
Was die palästinensischen Israelis betrifft, hinterlässt Netanjahu ein ambivalentes Erbe. Jahrelang hetzte er gegen sie. Auch drückte er das Nationalstaatsgesetz durch, nach dem Israel die „nationale Heimstätte des jüdischen Volkes“ ist und mit dem Arabisch als offizielle Sprache abgeschafft wurde. Im Vorfeld der Wahl 2015 warnte er, dass die arabischen Israelis in Scharen zu den Wahlurnen eilten.
Doch kurz vor Ende seiner Ära vollzog er eine Kehrtwende. Nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern aus Bedrängnis und Mangel an Koalitionspartner*innen näherte er sich der islamisch-konservativen Partei Ra'am an. Damit machte er auch andere arabische Parteien für eine Regierungskoalition hoffähig.
Genau dies hat ihn nun zu Fall gebracht: Ra'am hat am Sonntag der neuen Regierungskoalition unter Führung von Jair Lapid und Naftali Bennet die letzten benötigten Stimmen gebracht. Netanjahu jedoch sitzt erstmals seit 2009 in der Opposition. Von dort aus wird er wohl – um seine Position innerhalb des Likud zu stärken – auf eine schnelle Vorwahl drängen, zu der es kommen könnte, sollte die neue Regierung zerbrechen.
Doch auch innerhalb des Likuds muss Netanjahu um Macht kämpfen. Seine parteiinternen Herausforderer sitzen in den Startlöchern. Einige wie der ehemalige Bürgermeister von Jerusalem, Nir Barkat, lassen verlauten, der Parteichef hätte bereits vor einiger Zeit zurücktreten sollen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative