piwik no script img

Eltern über fehlende Inklusion„Mit so einer deutschen Bräsigkeit“

Wütende Eltern haben ein Protestcamp vor dem UN-Gebäude in Genf aufgebaut. Dort wird die deutsche Umsetzung der Behindertenrechtskonvention geprüft.

Vor dem UN-Sitz protestieren Eltern mit Kindern gegen die Verschleppung der inklusiven Bildung Foto: Berliner Bündnis für schulische Inklusion
Manuela Heim
Interview von Manuela Heim

taz: Frau Thoms, gerade prüft die UN die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland. Sie sind dafür extra nach Genf gereist. Was haben Sie vor?

Eva-Maria Thoms: Wir werden ab Dienstag auf dem Platz der Nationen, also vor dem UNO-Gebäude hier in Genf, ein Protestcamp aufbauen und während der gesamten Gespräche der Staatenprüfung dort ausharren.

Im Interview: Eva-Maria Thoms

ist Vorsitzende des Kölner Vereins Mittendrin e.V., der sich für schulische Inklusion einsetzt. Gemeinsam mit anderen Eltern ist sie nach Genf gereist, um anlässlich der Staatenprüfung auf Defizite bei der deutschen Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention aufmerksam zu machen.

Wer ist „wir“?

Wir sind ein bunter Haufen von Eltern aus verschiedenen kleineren und größeren Initiativen – vom Berliner Bündnis für schulische Inklusion bis zum Münchner Verein Kunterbunte Inklusion. Wir haben uns zusammengefunden, weil nach der letzten Staatenprüfung 2015 Deutschland zwar eine fette Rüge bekommen hat für sein nichtinklusives Bildungssystem, das aber in der Öffentlichkeit und auch in den Medien fast gar nicht wahrgenommen wurde. Deshalb sind dieses Mal rund 30 von uns hierhergefahren, um beim UN-Ausschuss, der Regierungsdelegation und in der Öffentlichkeit auf uns aufmerksam zu machen.

Was erwarten Sie von der Bundesregierung?

Deutschland hat die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert, damit ist sie seit 2009 Bundesgesetz. Darin gibt es einen Artikel 24, der uns dazu verpflichtet, ein inklusives Schulsystem aufzubauen. Dann würden wir erwarten, dass es mal umgesetzt wird. Wir haben in Deutschland ja das Problem, dass Schulpolitik Ländersache ist, und müssen jetzt feststellen, nach 14 Jahren Rechtsgültigkeit, dass gerade mal drei Länder das ernst nehmen und vorantreiben und da auch Pläne erstellen.

Welche sind das?

Hamburg, Bremen und Schleswig-Holstein. Dort ist auch längst nicht alles perfekt, aber die Landesregierung gibt sich Mühe, es geht was voran. Alle anderen Länder umgehen die Vorgaben oder verschleppen sie oder lassen sie gleich links liegen.

Das ist ein vernichtendes Urteil.

Ich habe selbst eine Tochter mit Behinderung und beobachte die ganze Diskussion von Köln aus, schon seit es die Behindertenrechtskonvention gibt. Unser Verein Mittendrin hat sich quasi zeitgleich gegründet. In Nordrhein-Westfalen hatten wir einen kurzen Aufbruch zwischen 2010 und 2016. Seitdem tut sich gar nichts mehr. Im Gegenteil, es geht rückwärts und es werden neue Sonderschulen gebaut.

Es gibt Eltern und Lehrer*innen, die sagen, das Förderschulsystem hat seine Berechtigung und ist für viele Kinder geeigneter.

Die Taktik, die in Deutschland läuft, ist ja die, dass man nichts für die Inklusion tut und dann sagt, och, das läuft ja gar nicht richtig, also müssen wir die Förderschulen erhalten. Jedes Kind hat ein Recht auf inklusive Bildung. Inklusion ist ein Prozess und die Politik muss etwas dafür machen, dass sie verwirklicht wird. Aber es wird ja von den Regierungen nicht einmal politisch vertreten, geschweige denn über Maßnahmen debattiert. Die halbe Welt versucht Inklusion umzusetzen und in Deutschland setzen wir uns hin, verschränken die Arme und sagen mit so einer deutschen Bräsigkeit, nee, also, unsere Förderschulen sind so toll, da sind die Kinder besser aufgehoben.

Aber das sind sie nicht?

Jedes Kind, das auf eine Förderschule geht, wird dafür aus seinem lokalen Umfeld rausgerissen, und allein das ist schon ein Grund dagegen. Wie soll denn Integration oder sogar Inklusion im Erwachsenenalter funktionieren, wenn wir es als Kinder nicht üben?

Glauben Sie, deutsche Po­li­ti­ke­r*in­nen lassen sich von ein paar Dutzend Eltern im fernen Genf beeindrucken?

Immerhin hat sich schon eine Reihe von Politikern fast aller Parteien angekündigt, in unserem Protestcamp vorbeizukommen, unter anderem der Bundesbehindertenbeauftragte. Aber wir werden in den kommenden Wochen natürlich auch dafür sorgen, dass der Abschlussbericht der UN in Deutschland diskutiert wird, sobald er da ist.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

4 Kommentare

 / 
  • Inklusion ist in Deutschland ein schlechter Witz.

    Das Sozialsystem funktioniert in Deutschland so lange, wie du es nicht brauchst.

    Mir wurden so 10 Jahre meines Lebens durch Inkompetenz und Bürokratie gestohlen, die ich nie wieder zurückbekommen werde.



    Ebenso auf Grund fehlender Inklusion.



    Wirste krank, kannste deinen Job (oder in meinem Falle, meine jobS) nicht mehr ausführen, dann musste Glück haben, ist wie Lotto spielen in diesem Land - manchen Menschen wird direkt geholfen, die bekommen dann die volle Ladung "in den Arsch geblasen", Andere wiederum werden ignoriert, ausgebremst oder zu sinnfreien Kursen vom Amt geschickt.

    Geld wird verbraten, durch Inkompetenz, Sinnlosigkeit und grauenhafte überbordende Bürokratie.

    auch hier bin ich mal gespannt, ob meine kritischen Worte wieder untern Teppich fallen oder nicht.



    Leider kann man sich bei der taz nie sicher sein.

  • Als haetten wir entschieden, spezialisierte Thoraxkliniken abzuschaffen und Herz-Ops in jedem kleinen Dorfkrankenhaus durchzufuehren, um dann zu merken, dass ohne Herzspezialisten und Spezialgeraeten in jedem Dorfkrankenhaus die Leute immer oefter an Herzerkranken versterben.

    Ob die Vorbedingungen an die Inklusion in Bezug auf Austattung mit Material und Personal jemals erfuellt werden koennen, weiss ich nicht, vielleicht in 10, 20 Jahren, vielleicht nie. Aber bis dahin wuerde ich mein Kind lieber auf einer spezialisierten Sonderschule sehen. Ein Spatz in der Hand ist besser als eine Taube auf dem Dach.

  • Was kann man von einer Gesellschaft erwarten, die eine erhebliche Energie darauf verwendet Kinder schon in der Schule "auszusortieren" und auf "Sonderschulen" und in "Einrichtungen" abzuschieben?

  • Die halbe Welt versuch Inklusion umzusetzen nur bei uns in Deztschland kriegen wir das nicht hin? In der Realität gibt es eine handvoll europäische Länder und vielleicht Kanada bei denen es etwas bessere Zahlen und Konzepte zu vermelden gibt. Im Rest der Welt besuchen immer noch >90% aller Kinder mit Behinderung gar keine Schule. Arme Länder können sich das sowieso nicht leisten. Selbst in vorbildlichen Ländern wie Kanada und Italien gibt es große Unterschiede zwischen ärmeren und reicheren Regionen, da die zusätzliche Ausstattung und Personal natürlich viel Geld kosten. Auch in Deutschland scheitert es ja an dem Unwillen die schönen Konzepte dann auch finanziell entsprechend zu unterfüttern.