Natascha Zaminski und ihre drei Töchter im Esszimmer

Gemeinsam Eis essen: Natascha Zaminski und ihre Töchter im Esszimmer Foto: Magdalena Stengel

Scheiternde Inklusion:Manchmal kann Warja in die Schule

Natascha Zaminski ist alleinerziehend, ihre Tochter Warja ist Autististin mit Down-Syndrom. Immer öfter muss sie mangels Schulbegleitung zu Hause bleiben.

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1.12.2023, 15:00  Uhr

Seit den Herbstferien kann Warja zur Schule gehen. Ganz normal, bis halb vier am Nachmittag, so wie alle anderen Kinder in ihrer Klasse an einer Oberschule im Bremer Süden.

Für Natascha Zaminski, die Mutter der Zwölfjährigen, ist das wie für viele Eltern behinderter Kinder keine Selbstverständlichkeit mehr. Bundesweit fehlen Menschen, die Kinder wie Warja in die Schule begleiten, ihnen helfen den Schulalltag zu bewältigen, so dass sie und ihre Mit­schü­le­r:in­nen gut lernen können. Das ist seit Jahren ein Problem, aber die Situation hat sich zugespitzt. Es geht jetzt nicht mehr darum, dass Kinder mal zu Hause bleiben müssen, weil ihre Schulbegleiterin krank ist oder kurzfristig gekündigt hat. Sondern darum, dass sie gar nicht mehr in die Schule gehen können. Ohne Perspektive.

Erst hieß es nur, Warja müsse um 14 Uhr nach Hause gebracht werden, erinnert sich Natascha Zaminski, eine berufstätige, alleinerziehende Mutter von drei Mädchen. Das war im März. Eine Mitarbeiterin der Schule deutete da bereits an, dass es noch schlimmer kommen könnte. Und so kam es. Zwei Tage vor Ende der Sommerferien teilte die Schule Natascha Zaminski mit, der Schulbesuch Warjas sei „bis auf Weiteres“ nicht möglich. Der Martinsclub, ein freier Träger der Wohlfahrtspflege, der Schulas­sis­ten­t:in­nen anstellt und vermittelt, habe niemanden, der qualifiziert sei, Warjas Betreuung zu übernehmen.

Das Mädchen braucht eine Eins-zu-eins-Betreuung. Sie hat sowohl das Down-Syndrom als auch eine Autismus-Spektrum-Störung. Deshalb kann sie nie allein gelassen werden, weder im Klassenraum noch in der Wohnung. Sie läuft weg, wenn sie von zu vielen Reizen überfordert ist oder reagiert aggressiv.

Auch an diesem Samstag Mitte Oktober sitzt eine junge Frau als Betreuerin neben Warja hinten im Wohnzimmer auf dem Sofa. Warja hört Musik über Kopfhörer und wiegt den Oberkörper vor und zurück. „Das macht sie immer, wenn sie dort sitzt“, sagt Natascha Zaminski. Die Frage, welche Musik sie höre, beantwortet Warja nicht. Auch das sei fast immer so, sagt die Mutter, „wir wissen eigentlich nie, was in ihr vorgeht“. Eigentlich sollte sie mit ihrer Betreuerin auf den Spielplatz gehen, aber Warja will nicht. Sie jetzt nach draußen zu zwingen, würde einen längeren Kampf nach sich ziehen, ein Gespräch wäre dann nicht mehr möglich.

Kein Boden unter den Füßen

So bleibt sie, zwängt sich immer wieder auf dem Weg zum Kühlschrank am Esstisch vorbei. Dort sitzt Natascha Zaminski sehr aufrecht und erzählt, wie sich ein Leben anfühlt, in dem sie sich nicht darauf verlassen kann, dass ihre Tochter beschult wird. „Das ist, als ob der Boden unter den Füßen weggezogen würde“, sagt die 51-Jährige. Oder: „Ich habe Angst, meine Arbeit zu verlieren“. Auch ihr Schlaf sei gestört. Und sie habe kaum Zeit und Energie für ihre anderen beiden Töchter.

Natascha Zaminski und ihre Töchter sitzen auf einem Sofa.

Was in Warja vorgeht, wissen Schwestern und Mutter meistens nicht Foto: Magdalena Stengel

Die sitzen still mit am Tisch und hören zu, Warjas Zwillingsschwester Sinah und die 16-jährige Tamina. Die Ältere hatte ihrer Mutter mal angeboten, zu Hause bei Warja zu bleiben anstatt in die Schule zu gehen. Natascha Zaminski hat eine halbe Stelle bei einer Versicherung in Hamburg, ein- bis zweimal die Woche fährt sie mit der Bahn dort hin, ansonsten ist sie im Home-Office. Aber wenn sie mit Warja allein in der Wohnung ist, kann sie nicht arbeiten. Warjas Schwestern helfen, wo sie können. Ab und an wendet sich ihre Mutter im Gespräch an sie. „Wisst ihr noch, wie viele Assistenzen Warja in diesem Jahr hatte?“ Waren es zwei oder drei? Wer kam zuerst und wann?

Denn der Oberschule an der Hermannsburg war es dann doch gelungen, rechtzeitig zum Schuljahresbeginn im Sommer jemanden für Warja zu organisieren, auf eigene Faust, wie der Schulleiter Achim Kaschub am Telefon erklärt. Erst den Bekannten einer Sozialpädagogin an der Schule, der eine Ausbildung abgebrochen und spontan Zeit hatte, danach eine Mutter. Beiden kamen gut mit Warja zurecht, meldeten die Mitar­bei­te­r:in­nen der Schule Natascha Zaminski zurück.

Das Geld dafür habe man aus anderen Töpfen „geklaut“, sagt der Schulleiter, das eigentlich für andere Aufgaben gebraucht werde. Aus steuerlichen Gründen konnten sie jeweils nur für maximal sechs Wochen beschäftigt werden. Eine Anstellung beim Martinsclub war nicht möglich, weil sie dessen Qualifikationsstandard nicht erfüllten.

Ständig wechselnde Betreuung

Eine ständig wechselnde Betreuung ist für kein Kind gut, erst recht nicht für ein autistisches, das verlässliche Routinen braucht. Außerdem musste Warja von der Siebten in die fünfte Klassenstufe wechseln. Der Grund: In der Siebten war niemand, der Warja die Windel wechseln konnte, eine Pflegetätigkeit, die die eilends angestellten Hilfskräfte nicht leisten konnten. „Es war schwer für Warja, aber was sollten wir machen?“, sagt Natascha Zaminski.

Der Wechsel von der Siebten in die Fünfte bedeutete für Warja auch, dass sie von ihrer einzigen Freundin in der Klasse getrennt wurde, einem Mädchen, das ebenfalls das Down-Syndrom hat. Deren Beschulung endet aufgrund der schlechten Betreuungssituation um 14 Uhr – wenn sie überhaupt in die Schule gehen kann.

Im vergangenen halben Jahr musste sie immer wieder zu Hause bleiben oder früher abgeholt werden, erzählt ihre Mutter Türkan Celik. „Ich kann mit nichts planen.“ Weil sich die Assistentin ihrer Tochter Mitte November verletzt hat, war das Mädchen vergangene Woche nur am Mittwoch in der Schule, vielleicht kann sie diese Woche am Dienstag und Mittwoch in die Schule. Sie sei selbständig und verliere Aufträge, sagt Türkan Celik.

Eine solche für die Familien „dramatische Situation“ habe es an seiner Schule noch nie gegeben, sagt Achim Kaschub. Er nennt es ein „Armutszeugnis“. Seit Jahren sei es schwierig, Schul­be­glei­te­r:in­nen für Kinder zu finden, die diese aufgrund einer Behinderung, Krankheit oder Verhaltensauffälligkeiten brauchen. Nicht immer in Einzelbetreuung wie bei Warja, in vielen Fällen reiche eine Fachkraft in der Klasse, die sich um mehrere Kinder kümmern kann. Aber die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage werde immer größer. Das hat mit den Folgen der Pandemie zu tun sowie der wachsenden Zahl an aufgrund von Flucht- und Kriegserfahrungen Traumatisierten und andererseits dem Fachkräftemangel.

Hilferufe von Eltern

In Bremen gibt es dazu aktuelle Zahlen, die Fraktion der Linken in der Bremischen Bürgerschaft hatte Ende September danach gefragt. 85 Stellen seien im Bereich „W und E“ nicht besetzt, das entspreche 66 Vollzeitstellen. W und E steht für Wahrnehmung und Entwicklung, in Bremen werden so Kinder bezeichnet, die man früher „geistig behindert“ genannt hat. Bisher ist der Martinsclub der einzige Träger in Bremen, der solche W- und E-Assistenzen vermittelt.

Zudem sind laut Bildungsbehörde zwölf Assistenzen für körperlich behinderte Kinder unbesetzt sowie 155 Stellen, bei denen es um eine psychische oder seelische Behinderung geht, die sich beispielsweise in Verhaltensauffälligkeiten oder Lernschwierigkeiten äußern kann.

Nachgefragt hatte die Linke aufgrund der Hilferufe von Eltern, deren Kinder eine der letzten Förderschulen in Bremen besuchen. Die Paul-Goldschmidt-Schule für schwer beeinträchtigte Kinder hatte Ende August die Vier-Tage-Woche eingeführt, weil so viel Personal fehlt. Nicht nur Assistent:innen, sondern auch Sonderpädagog:innen.

Schüler:innen mit Begleiter:innen in einem Klassenzimmer

2017 gab es an dieser Schule in Hannover offenbar keinen Mangel an Schul­be­glei­te­r:in­nen Foto: Holger Hollemann / dpa

Der Mangel ist deutschlandweit zu spüren, immer dort besonders, wo der Bedarf besonders groß ist. Ein Beispiel ist die Oberschule an der Koblenzer Straße in Tenever, einem von Armut geprägten Stadtteil am Rand Bremens. Hier leben viele Kinder in schwierigen Familienverhältnissen, viele mit Fluchterfahrung, schlechten Chancen auf ein gesundes, selbstbestimmtes Leben. Rund 15 Kinder mit bestätigtem besonderem Förderbedarf gebe es in jedem der sechs Jahrgänge, sagt Schulleiter Christian Scheidt. Aber nur die Hälfte aller genehmigten Assistenz-Stunden seien abgedeckt, 400 Wochenstunden seien offen.

Trickkiste für Notfälle

Hinzu kämen die Ausfälle aufgrund von fehlenden Son­der­päd­ago­g:in­nen: Gerade einmal 24 von 300 solcher wöchentlichen Förderstunden kann der Schulleiter mit seinem Personal abdecken. „Wir haben die von allen anderen Aufgaben abgezogen“, sagt Christian Scheidt, „sie können ihr zweites Fach nicht mehr unterrichten und sind auch keine Klas­sen­leh­re­r:in­nen mehr“. Glücklich sei niemand damit.

Er sei froh über jeden und jede, die trotzdem bleibe und sich nicht an eine Schule in einem weniger belasteten Stadtteil bewerbe. Auch die Schul­be­glei­te­r:innen gehen nicht nur nach seiner Beobachtung lieber an andere Schulen, in denen sie mehr Zeit für einzelne Kinder haben – und die nicht so weit von ihrem Wohnort entfernt liegen.

Auch Christian Scheidt kennt die Trickkiste, wie er mit Hilfskräften Notfallzeiten überbrücken kann, auch er zieht Geld aus anderen Töpfen ab. Doch in diesem Jahr reichte selbst das nicht mehr. In der neu eingeschulten fünften Klasse gab es gar keine Assistenzkräfte mehr, nicht für ganze Klassen oder einzelne Kinder, einfach niemanden. Drei Kinder mussten deshalb die Schule wechseln, an ein Gymnasium in einen anderen Stadtteil, das nicht optimal, aber sehr viel besser personell ausgestattet ist als seine Schule. „Das ist das Eingeständnis eines Versagens von Inklusion“, sagt der Schulleiter.

Ungeeignete werden eingestellt

Die Bremer CDU macht dafür die rot-grüne-rote Landesregierung und vor allem die seit Jahrzehnten für die Bremer Bildungspolitik zuständige SPD verantwortlich. Die beiden Schulleiter können hingegen keine systemischen Versäumnisse der Politik erkennen. Auch die Bildungsbehörde helfe, wo sie könne, sagen sie, könne aber kein Personal aus dem Hut zaubern. Der Markt der sozialen Berufe und Lehrkräfte sei leergefegt, wer als Schul­as­sis­tent:in­ arbeite, fehle dann eben an anderer Stelle: in Kindertagesstätten, der Jugendhilfe oder der Pflege, in Bremen oder anderen Kommunen.

Die Not führt auch dazu, dass Menschen eingestellt werden, die selbst so große Probleme haben, dass sie die Arbeitslast der Lehrkräfte in den Klassen vergrößern. „Ich muss regelmäßig Gespräche mit erwachsenen Männern führen, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind“, erzählt eine Lehrerin aus Schleswig-Holstein. Sie unterrichtet an einer Schule nahe Hamburg, die von vielen Kindern aus belasteten Familien besucht wird. Einer habe häufig gefehlt, ließ sich die Stundenzettel aber trotzdem von den Leh­re­r:in­nen unterschreiben. „Wer hat denn die Zeit, neben der Anwesenheit von über 20 Kindern noch die der Schul­be­glei­te­r:in­nen zu überprüfen?“

Das Kind mit schwerem Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätssyndrom war dann ohne ihn in der Schule, und schlug um sich, wenn es überreizt war. Ein anderer habe das ihm anvertraute Kind geschlagen, getreten und beschimpft, hätten ihr dessen Mit­schü­le­r:in­nen erzählt. Auch Alkoholiker habe sie schon erlebt. „Manchmal riecht der ganze Klassenraum nach Kippen und Schweiß.“

Davor soll in Bremen ein relativ hoher Qualifizierungsstandard schützen. Das führt dazu, dass Menschen, die einen guten Draht zu den Kindern haben, nicht mit diesen arbeiten können – weil ihnen die Qualifikation fehlt. Gut sei deshalb, sagen die beiden Bremer Schulleiter, dass es jetzt in Bremen möglich ist, berufsbegleitend eine Ausbildung zum Sozialassistenten zu machen. Er hoffe, dass der 24-Jährige, der Warjas Betreuung im Sommer spontan übernommen hatte, sich dafür entscheiden werde und an seiner Schule anfange, sagt Achim Kaschub. „Er hat dabei entdeckt, dass ihm das liegt.“

Um Notfälle wie den von Warja wenigstens abzumildern und Leute wie den 24-Jährigen zu halten, wünschen sich die Schulleiter mehr Geld. „Als Schule brauchen wir einen eigenen Etat, um jemanden zur Überbrückung einstellen zu können“, sagt Achim Kaschub, und das dann nicht nur für maximal sechs Wochen. Sein Kollege Christian Scheidt glaubt, dass eine bessere tarifliche Eingruppierung mehr Menschen motiviere, sich als Schulassisten:­in­nen zu bewerben.

Potenzial gebe es auch noch bei den Menschen, die in den vergangenen Jahren nach Deutschland eingewandert sind und Erfahrung in der Arbeit mit Kindern haben, aber keine Berufsabschlüsse, die hier anerkannt werden, sagt Katharina Lankenau-Wettstein, beim Martinsclub zuständig für die Schulassistenzen. Sie wünscht sich eine bundesweite Regelung, damit sie schneller für Tätigkeiten wie Warjas Schulbegleitung gewonnen werden können.

Warja geht zur Schule, bis Ende Dezember hat sie eine Assistenz. Dann soll es wieder einen Wechsel geben. Ihre Mutter hofft, dass das klappt.

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