Einschränkung der Grundrechte: „Gift für die Versammlungsfreiheit“
Schleswig-Holsteins neues Versammlungsgesetz erlaubt Videoüberwachung friedlicher Demos. Für Bürgerrechtler ein Versuch der Abschreckung.
Im Zuge der Föderalismusreform ist das Demonstrationsrecht seit 2006 Sache der Länder. Als erstes legte sich daraufhin Bayern ein neues Gesetz zu - das 2009 prompt im Eilverfahren vom Bundesverfassungsgericht kassiert wurde - denn die Gesetzesnovelle sah unter anderem anlasslose Bildaufzeichnungen des Versammlungsgeschehens vor.
Auch gegen Niedersachsens neues Versammlungsgesetz, das die damalige CDU-FDP-Regierung 2010 erlassen hatte, ist eine Klage der Initiative „Versammlungsfreiheit für Niedersachsen“ beim Bundesverfassungsgericht anhängig, unter anderem wegen der Regelung zu Ton- und Videoaufnahmen.
Ebenfalls vor das Verfassungsgericht gezogen sind Piraten-, Grünen- und Linksfraktion in Berlin, weil das dortige Landesgesetz der Polizei „Überblicksaufnahmen“ von Demonstrationen gestattet. Anders die Grünen in Schleswig-Holstein: Sie stießen sich nicht an einem entsprechenden Passus, sondern tragen die Novellierung mit.
Am 22. Mai hat der Kieler Landtag das neue - von der Landesregierung so genannte - Versammlungsfreiheitsgesetz für Schleswig-Holstein verabschiedet.
Videoüberwachung größerer Demonstrationen dürfen und können danach per Kamerawagen, Hubschrauber oder Drohnen erfolgen, auch wenn nur einzelne Teilnehmer Anhaltspunkte für Rechtsverletzungen geben.
Der geplante Ablauf einer Demo muss bei der Anmeldung verbindlich angegeben werden - bei Abweichungen drohen Bußgelder.
Durchsuchungen von Demonstranten durch Zugangskontrollen finden nicht mehr statt - es sei denn, es gibt Hinweise auf den Besitz verbotener Vermummungshilfsmittel: Dann darf die Polizei alle Teilnehmer durchsuchen.
Die erlaubt der Polizei künftig, Bild- und Tonübertragungen als Übersichtsaufnahmen live von „öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel und ihrem Umfeld zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes“ anzufertigen, wenn dies „wegen der Größe oder Unübersichtlichkeit der Versammlung erforderlich“ sei.
Oder wenn es Anhaltspunkte für die Annahme gebe, dass von Demonstrierenden eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgehen können. Dafür dürfen Kameras mit Weitwinkel-Objektiven in der Ebene oder auch Hubschrauber und Mini-Drohnen aus der Luft eingesetzt werden.
Burkhard Peters, innen- und rechtspolitischer Sprecher der Kieler Grünen-Landtagsfraktion, nennt das neue Gesetz „mustergültig“. Es sei eindeutig ein Kompromiss zwischen Bürgerrechten und dem Schutz bei Demonstrationen.
Ganz anders sieht es die Piratenfraktion: „Das ist Gift für die Versammlungsfreiheit“, kritisiert der Abgeordnete Patrik Breyer. „Erstmals wird in Schleswig-Holstein der Polizei erlaubt, alle Teilnehmer an größeren Demos videozuüberwachen, selbst wenn nur bei Einzelnen von ihnen vermutet wird, dass von ihnen eine erhebliche Gefahr ausgehen könnte.“
Das sei „inakzeptabel“, so Breyer weiter. „Videoüberwachung von Demonstrationen schüchtert ein und hält Menschen vom Demonstrieren ab.“
So sehen es auch jene Kläger in Hannover, die gegen das niedersächsische Gesetz klagen: „Ich kenne Leute, die wirklich nicht zu einer Demo gegangen sind, weil sie Angst vor dem Filmen hatten“, sagt Michael Ebeling vom „Arbeitskreis Vorratsdatenspeicherung“.
Und das Oberverwaltungsgericht Münster hat in einem anderen Verfahren festgestellt: Selbst wenn die Bilder nicht gespeichert werden, stellt das Übertragen von Bildern auf einen Monitor einen Eingriff in Grundrechte und eine Verletzung des Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.
Carsten Gericke vom Republikanischen Anwaltsverein (RAV), der gerade in Hamburg erfolgreich Klage gegen die dortigen polizeilichen Gefahrengebiete geführt hat, zeigt sich erschüttert über das neue Gesetz im nördlichen Nachbarland.
Zusammen mit seinen RAV-Kollegen Sven Adam, Anna Luczak und Verina Speckin hatte der Jurist im Gesetzgebungsverfahren ein Gutachten für den Kieler Landtag erstellt - und auf bedenkliche Punkte im Entwurf hingewiesen. „Es ist ein repressives Versammlungsgesetz geworden“, sagt Gericke der taz. „Was sich die Grünen dabei denken, ist mir rätselhaft.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Journalist über Kriegsgefangenschaft
„Gewalt habe ich falsch verstanden“