Eine nie dagewesene Freundschaft: Brüderchen Russland
Ostdeutsche Ministerpräsidenten beschwören gern ein besonderes Verhältnis zu Russland. Echte Nähe hat es nie gegeben, auch nicht zur DDR-Zeiten.
M an habe „hier in den neuen Bundesländern eine besondere Sichtweise in Richtung Osteuropa. Wir kennen die Gefühle der Menschen, wir kennen auch die Geschichte und wir wollen die Dinge beim Namen nennen“, sagte Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer im vergangenen Sommer nach umstrittener Russlandreise und Audienz bei Präsident Wladimir Putin.
Der „besonderen Sichtweise“ und Nähe zu Russland stimmen auch die übrigen MinisterpräsidentInnen der neuen Bundesländer zu. Sie drängen auf baldigen Abbau der Sanktionen, die 2014 wegen der Krim-Annexion und des Kriegs in der Ostukraine gegen Moskau verhängt worden waren.
Die Ausführungen des sächsischen Regierungschefs ließen aufhorchen. Kretschmer wischte die Kritik mehrerer EU-Staaten am Bau der zweiten Nordstream-Gas-Trasse vom Tisch, mit dem Hinweis, US-amerikanische Interessen stünden dahinter. Überdies sprach er von osteuropäischen Interessen, schien aber nur Russland im Sinn zu haben.
Der antiamerikanische Schlenker kommt in Moskau gut an. Auch die selbstverständliche Wiedereinsetzung Russlands als osteuropäische Vormacht. Denn osteuropäisch und russisch verwendet der Regierungschef als Synonym. Wieder werden bei den östlichen Nachbarn Erinnerungen an den Hitler-Stalin-Pakt geweckt. Antiamerikanismus und Überheblichkeit gegenüber Osteuropa waren schon feste Topoi der deutschen Reaktion lange vor dem Zweiten Weltkrieg. Heute ist Russland kein Nachbar mehr, andere Länder liegen dazwischen. Warum wird trotz allem diese Nähe beschworen? Sind Anknüpfungspunkte für Vertrautheit vielleicht in der Beziehung zwischen der Sowjetunion und der DDR nach dem Kriegsende zu suchen?
Die Mauer fiel im November 1989, im März 1990 war die DDR-Volkskammer neu gewählt worden. Deswegen war die DDR-Botschaft in Moskau gesprächsbereit, als der Moskaukorrespondent dieser Zeitung, gerade in der UdSSR eingetroffen, um ein Interview bat. Das Treffen mit einem ranghohen Diplomaten war freundlich. Kein Blatt nahm er vor den Mund, obwohl ihm gegenüber noch ein Klassenfeind saß. Auch der leutselige Versuch, neue deutsch-deutsche Gemeinsamkeit zu schaffen, wirkte verwirrend. Noch vor Kurzem verhängte Ostberlin Einreiseverbote, nun bot es Komplizenschaft an.
Den sowjetischen Alltag schilderte der DDR-Diplomat jedoch realistisch und ideologiefrei: Alkoholsucht, Disziplinlosigkeit, technische und organisatorische Rückständigkeit, gewaltige Umweltsünden, ärmliche Lebensbedingungen der Bevölkerung. Wenn junge DDR-Studenten in die Sowjetunion kamen, mussten sie in den ersten Tagen zur Unterweisung in der Botschaft erscheinen, erzählte er. Das zu Hause vermittelte Bild war nur ein Entwurf, der nichts mit der Wirklichkeit gemein hatte. Für einige, besonders klassenbewusste junge Genossen, sei das schmerzlich gewesen, gestand der Diplomat.
In der DDR selbst blieben Kontakte zu Russland und den Russen nur offiziell. Die Massenorganisation der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft (DSF) bot dafür meist den Rahmen. Sie zählte Millionen Mitglieder, die ihr aber kein Leben einhauchen konnten. Es war eine politische Organisation, in der man offiziell „sowjetische Freunde“ traf, aber „fremden Russen“ begegnete.
Tatsächlich blieben die Russen auch während Gorbatschows Perestroika immer ein Fremdkörper in der DDR. Bis zum Abzug aus Deutschland 1994. Engere Kontakte wurden von beiden Seiten gemieden. Die Sowjets befürchteten, die Ostdeutschen könnten das Verlangen nach besseren Lebensbedingungen wachrufen. DDR-Kommunisten wollten das „Paradies“ nicht an die Wirklichkeit verlieren. Die DDR galt lange als Schaufenster und Musterland. Aus Sicht der sozialistischen Bruderstaaten war sie gar so etwas wie ein west-östlicher Hybrid. Sie genoss den Ruf, in fast allem vorbildlich zu sein. Nur bei den Reformen des KPdSU-Generalsekretärs, Michail Gorbatschow, zog Ost-Berlin nicht mit. Von einer Nähe gegenüber der Sowjetunion war wenig zu spüren. Eher schimmerte Überheblichkeit durch, die vor allem auf dem alltäglichen Chaos in der Sowjetunion beruhte.
Heute beschwören die MinisterpräsidentInnen die fiktive Nähe aus wirtschaftlichen Interessen. Die Fakten halten dem aber nicht stand. Der Russlandhandel ist insgesamt rückläufig. Gleichwohl ist dieser Rückgang nicht lebensbedrohend. Ein Blick auf Sachsens Handelsstatistik ergibt, dass Russland 2018 nicht mehr zu den führenden Exportländern gehört. 60 Prozent des sächsischen Exports gehen insgesamt in die EU, darunter sind Tschechien und Polen die wichtigsten Partner in Osteuropa. An der Spitze der Ausfuhrliste stehen China und die USA als Einzelstaaten.
Auch vor den Sanktionen 2013 war Russland jedoch kein Partner, der für Rekordumsätze sorgte. Moskau rangierte damals auf Platz sechs zwischen der Tschechischen Republik und Polen. China und die USA bildeten auch damals schon die Spitze. Die mit den Sanktionen verbundenen Einbußen sind nicht so gravierend, als dass es sich lohnen würde, einen Bruch des Völkerrechts zu ignorieren und Einmütigkeit in der EU aufs Spiel zu setzen.
Weder pragmatische Interessen noch die Jahre der DDR-Diktatur können die warmen Empfindungen der ostdeutschen Politiker heute erklären. Was aber ist es dann? Ist es die alte Konstante der deutschen Geschichte, der Antiamerikanismus, der mit gesteigerter Affinität für den russischen „Nachbarn“ einhergeht? Auch nach 1945 hatten die USA als Ordnungsmacht Individualismus und Freiheitsdrang im Westen befördert. Die SU diente indes als eine willkommene Projektionsfläche für antidemokratische und antiwestliche Strömungen. Heute fällt Russland diese Rolle zu.
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