Ein Jahr nach dem G-20 Gipfel in Hamburg: Der Schock sitzt

Bei der G20-Aufarbeitung stehen sich zwei Wahrheiten gegenüber: Der Senat sieht einen Erfolg, die Gipfel-Gegner die Demokratie suspendiert.

Polizisten lösen Sitzblockade auf

Die Staatsmacht setzt sich durch: Polizeieinsatz bei G 20 Foto: Miguel Ferraz

HAMBURG taz | Der G20-Gipfel war ein Erfolg. In der Hamburger Innenstadt haben 30.000 PolizistInnen aus ganz Deutschland unter enormem Einsatz die Sicherheit der Gipfelteilnehmer garantiert. Es gab weder Terror noch Tote. Zwar hat das Ausmaß an Gewaltbereitschaft der internationalen linken Szene überrascht, wie auch deren Gerissenheit, wenn Vermummte sich in Windeseile wenige Meter von den Gefahrenpunkten umzogen und sich in scheinbar harmlose, bunt gekleidete Passant*innen verwandelten.

Olaf Scholz sagte nach dem Gipfel, er wünsche sich harte Strafen, und die hat er bekommen. Die politisch Verantwortlichen haben bewiesen, dass ein politisches Großereignis in einer europäischen Metropole, auch mit starker linker Szene, durchführbar ist. „Ich würde es wieder tun“, hat Scholz jüngst erneut im G20-Sonderausschuss gesagt.

Man würde heute anders darüber reden, sagte Innensenator Andy Grote (SPD) und wohl zu vorsichtigeren Einschätzungen kommen. Eine kleine gewaltbereite Minderheit dürfe den Staat aber nicht erpressen und entscheiden, wo Veranstaltungen stattfinden.

Das ist die eine Erzählung, die es über die Gipfeltage gibt. Es ist die Version des Senats, allen voran der Innenbehörde, und die der Polizeiführung. Schwere Fehler sind demnach nicht passiert, Polizeigewalt hat es höchstens vereinzelt – oder „gar nicht“ gegeben, wie Scholz direkt nach dem Gipfel behauptete.

Die andere Sicht

Ganz anders hört es sich an, wenn Aktivist*innen, Bürgerrechtler*innen, linke Anwält*innen aber viele der Bürger*innen aus den betroffenen, alternativen Stadtteilen über das G20-Treffen sprechen. Für sie war der Gipfel ein Desaster: Die Demokratie wurde schon vor dem Gipfel suspendiert, als die Polizei eine 38 Quadratkilometer große Demoverbotszone einrichtete.

Die Tage selbst waren ein einziger Ausnahmezustand, von dem viele Hamburger*innen noch immer traumatisiert sind. Auf der Straße Polizeitruppen, am Himmel Hubschrauber. Tag und Nacht. Die Schulen und Kitas im Zentrum: geschlossen, Schwimmbäder, Sparkassen und Supermärkte: verrammelt. Zeltlager, die das Gericht genehmigt hatte, verhinderte die Polizei. Sie missachtete das Recht, betrachtete auch friedlichen Protest als Störung, machte aber wenig Gefangene, sondern prügelte auf Blockierer*innen ein.

In der Soko „Schwarzer Block“ arbeiten nach dem G20-Gipfel 144 Beamte, im Dezernat „Interne Ermittlungen“ 15 Beamte.

2.006 Ermittlungsverfahren laufen aktuell noch gegen Gipfelgegner;138 liefen gegen Polizisten, davon wurden 67 eingestellt, mangels hinreichenden Tatverdachts.

51 Haftbefehle gab es gegen Gipfelgegner; 30 Menschen blieben davon einen Monat oder länger in Untersuchungshaft, zwei sitzen bis heute in U-Haft.

61 Verurteilungen fielen gegen Gipfelgegner; gegen Polizisten gab es bis heute keine Anklage. Fünf Freisprüche gab für GipfelgegnerFreiheitsstrafen gab es für sieben Gipfelgegner. Das Höchstrafmaß für Gipfelgegner war: drei Jahre sechs Monate.

Bis heute, ein Jahr nach dem Ereignis, stehen sich diese beiden Erzählungen immer noch diametral gegenüber. Versuche, beide Sichtweisen in ein Gesamtbild zu bringen, gibt es wenig. Die Vertreter*innen beider Seiten begegnen sich höchstens vor Gericht.

61 G20-Gegner*innen wurden bisher verurteilt. Das Strafmaß reicht von Geldstrafen und geringen Bewährungsstrafen bis zu Haftstrafen von drei Jahren und drei Monaten. Der Hamburger Rechtsanwalt Matthias Wisbar vom Republikanischen Anwaltsverein spricht auf der Pressekonferenz der G20-Gegner zum ersten Jahrestag von „Feindstrafrecht“: Ein Begriff des Strafrechtlers Günther Jakob, wonach bestimmte Gruppen zu Feinden des Staates erklärt werden und ihnen die Bürgerrechte versagt werden.

Rechtswidrig weggesperrt

Ein paar Niederlagen musste die Staatsanwaltschaft vor Gericht allerdings einstecken. Anfang Juni gewann ein italienischer G20-Gegner gegen die Stadt, der zusammen mit sieben anderen in Gewahrsam genommen worden war – nur aufgrund ihres „südländischen Aussehens“. Es sei „schweres Unrecht“ geschehen, sagte der Richter, „das Einzige, was an diesem ganzen Prozedere rechtmäßig war, war die Freilassung.“

Das war kein Einzelfall. Mitte Juli erklärte das Gericht in einer Überprüfung mehrere Ingewahrsamnahmen für rechtswidrig, da sie zu lange gedauert hatten. Bis zu 40 Stunden mussten einige G20-Gefangene in den winzigen Stellen der Sammelstelle verbringen, ohne Matratzen, ohne warme Mahlzeiten und ohne Schlaf.

Doch die juristische Aufarbeitung ist noch lang nicht beendet. Laut Staatsanwaltschaft laufen aktuell noch 687 Ermittlungsverfahren gegen insgesamt 854 Beschuldigte sowie weitere 1.319 Verfahren gegen Unbekannte.

Die eine Materialschlacht folgte auf die andere. Knapp 100 Terabyte auszuwertendes Videomaterial, europäische Haftbefehle, Razzien in Spanien, Italien, Frankreich und der Schweiz, zwei internationale Öffentlichkeitsfahndungen. Schnappschüsse von 208 Gesuchten werden verbreitet. Bislang sind damit 54 Verdächtige identifiziert worden – deutlich mehr als üblich.

„Eine klare Botschaft“

Dass es vor allem um Abschreckung geht, daraus macht Innensenator Grote keinen Hehl. Man habe „einen neuen Standard der Strafverfolgung etabliert“, erklärte er. Täter, die nicht direkt bei Ausschreitungen festgenommen wurden, hätten bislang nicht viel zu befürchten gehabt – das sei nun anders. Das sei eine „klare Botschaft“ an die gewaltbereite Szene: „Wenn ihr das unbedingt machen wollt, macht lieber einen Bogen um Hamburg.“

Eine konsequente Strafverfolgung, wie sie Grote beschwört, vermisst das linke Lager auch – es meint aber die Übergriffe durch Polizist*innen: Bis heute gab es keine einzige Anklage gegen eine*n Polizist*in. In elf Fällen aber, sagte Grote, seien die Strafverfahren eingestellt worden, weil die Polizist*innen nicht zu identifizieren gewesen seien.

Deshalb will er nun die Kennzeichnungspflicht einführen. „Wir nehmen wahr, dass von einer Polizei in der Mitte der Gesellschaft erwartet wird, dass sie erkennbar ist.“ Grote betont damit den Gedanken einer Bürgerschutzpolizei, die auf Augenhöhe mit den Bürgern agiert.

Gerade diese Auffassung aber wurde für Rafael Behr, Professor an der Akademie der Polizei Hamburg, über Bord geworfen. „Das Prinzip eines Gipfels inmitten einer demokratischen Stadtgesellschaft wurde ad absurdum geführt, die Polizei zur martialischen Law-and-Order-Polizei“, sagte Behr. Anders als zuvor versprochen, sei die Stadtgesellschaft exkludiert worden. „Aus den Bürgern wurden wieder die klassischen Herrschaftsunterworfenen“, sagte Behr.

Mehr darüber, wie Bürger*innen und Politik den G20-Gipfel verarbeiten und auch noch ein bisschen was zum Rätseln finden Sie in der Nordausgabe der taz.am wochenende oder am E-Kiosk.

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