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EU nach Abzug aus AfghanistanHilflosigkeit und Angst

Eric Bonse
Kommentar von Eric Bonse

Groß ist die Sorge in der EU vor neuen Flüchtlingen aus Afghanistan. Brüssel signalisiert frühzeitig eine Kooperation mit Ankara, Islamabad und Teheran.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, 05.02.2021 Foto: Vasily Maximov/dpa

S o eine harte Landung haben die Außenpolitiker in Deutschland und in der EU wohl nie zuvor hingelegt. Noch vor wenigen Monaten träumten sie von einem „demokratischen Neuanfang“ in Afghanistan. Noch vor wenigen Wochen vertrauten sie auf die Kampfbereitschaft der afghanischen Sicherheitskräfte. Und noch vor wenigen Tagen drohten sie den Taliban mit internationaler Isolation, sollten sie sich nicht an die westlichen Spielregeln halten.

Und nun? Kurz nach dem Fall von Kabul erklärt der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, das man selbstverständlich auch mit den Taliban sprechen werde. „Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen“, sagte Borrell am Dienstagabend nach einer Videokonferenz der 27 Außenminister. Die EU sei auch bereit, weiter humanitäre Hilfe zu leisten, um die Afghanen zu schützen und Menschen, die in die EU einwandern wollen, abzuwenden.

Plötzlich gilt nicht mehr, dass man sich mit Islamisten und Terroristen grundsätzlich nicht an einen Tisch setzt. Plötzlich will die EU selbst dann noch für Afghanistan zahlen, wenn die USA endgültig abgezogen sind und die Taliban das Gesetz der Scharia durchgesetzt haben. Dahinter steckt kein rationales Kalkül und schon gar keine langfristige Strategie – die hat die EU in Afghanistan noch nie gehabt, man war ja nur Juniorpartner der USA und der Nato.

Borrells Worte verraten etwas anderes: Hilflosigkeit und Angst. Hilflosigkeit im Umgang mit einer Lage, die man nicht vorhergesehen hat und die man nicht beherrscht – gegen die Taliban geht nichts mehr. Und Angst vor vielen neuen Flüchtlingen, die bald die EU und Deutschland erreichen könnte. „2015 darf sich nicht wiederholen“: Das hat man sich längst auch in Brüssel geschworen. Damit die Afghanen nicht flüchten, will Borrell ihnen helfen.

Man will zudem die Nachbarländer Afghanistans unterstützten, damit dort Auffanglager und Arbeitsmöglichkeiten entstehen. „Pakistan, Iran und die Türkei werden entscheidend für uns“, erklärte Borrell nach der Krisensitzung. Sogar mit Russland und China will die EU enger zusammenarbeiten, um einen „Exodus“ aus Afghanistan zu verhindern. Das wird Geld kosten, viel Geld. Es ist der Preis für eine naive und gescheiterte Politik.

Doch warum sollen diesen Preis nur die Europäer zahlen? Wieso präsentiert die EU nicht den USA die Rechnung für den überstürzten und katastrophalen Abzug aus Afghanistan? Wieso wagt es kaum ein EU-Politiker, US-Präsident Joe Biden für seinen Crashkurs zu kritisieren? Wer fordert Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg heraus, der noch am Dienstag die angeblichen „Fortschritte“ in Afghanistan lobte und sich als Retter in der Not präsentierte?

Dafür sei es noch zu früh, zunächst müsse man sich auf die Evakuierung konzentrieren, heißt es in Brüssel. Das ist wohl wahr. Doch der Zeitpunkt der Abrechnung wird kommen. Er wird bitter werden – nicht nur für die Europäer. Wenn es stimmt, dass der Fall Afghanistans die größte geopolitische Erschütterung seit der Annexion der Krim durch Russland war, wie Borrell sagt, dann müssen sich auch die Amerikaner auf einiges gefasst machen.

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Eric Bonse
EU-Korrespondent
Europäer aus dem Rheinland, EU-Experte wider Willen (es ist kompliziert...). Hat in Hamburg Politikwissenschaft studiert, ging danach als freier Journalist nach Paris und Brüssel. Eric Bonse betreibt den Blog „Lost in EUrope“ (lostineu.eu). Die besten Beiträge erscheinen auch auf seinem taz-Blog
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2 Kommentare

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  • Zitat Borell: „Die Taliban haben den Krieg gewonnen, also werden wir mit ihnen reden müssen“

    Dieser Logik zufolge wird das okzidentale Bündnislager nur mit denjenigen unter seinen strategischen Gegnern reden, die militärisch stak genug sind. Alle anderen sind offenbar nicht satisfaktionsfähig. Damit dürfen sich jene unter ihnen bestärkt fühlen, die dem Westen mit militärischem Geprotze die Zähne zeigen und von einer Position der Stärke heraus politische Ziele erreichen wollen. Die impliziten Folgen dieser Leeren für den Weltfrieden sind nicht absehbar, denn sie laden ein zum Muskelspielen und Waffenklirren als probate Mittel der Politik, wie sie die USA und die Staaten in ihrem Bündnisorbit seit je verfolgen. Wie man in den Wald hineinruft...

    Der frühere deutsche Außenminister Sigmar Gabriel hat durchaus Recht mit seinem Fazit:„Wie schon im Irak zeigt auch in Afghanistan die viel gelobte "wertegeleitete Außenpolitik", dass sie zu grausameren Ergebnissen führen kann, als die viel gescholtene Realpolitik.“ (gestern im „Tagesspiegel“) Die propagandistische Begleitsound dieser „wertegeleiteten Außenpolitik" manu militari ist die R2P-, Menschenrechts- und Nationbuilding-Rhetorik und letztlich nichts anderes als der Ausdruck ewigen Strebens der USA, ihren Gründungsmythos der uramerikanischen „Manifest Destiny“-Doktrin ins Globale zu wenden und die Welt an ihrem Wesen zu genesen zu machen. Das Afghanistan-Abenteuer ist dessen bisheriger Höhepunkt. Diesem globalem Streben weiter Feuer zu geben wäre mehr als ein Verbrechen, es wäre ein Fehler (frei nach Charles Maurice de Talleyrand). Das sollte sich das außenpolitische Establishment in Brüssel und den Hauptstädten der EU-Mitgliedstaaten hinter die Ohren schreiben.

  • Diese Länder sind nicht dafür bekannt, dass sie uns etwas umsonst geben.



    Man kann gespannt sein was der politische Preis sein wird…Wollen wir mit den dort herrschenden Autokraten wirklich „Deals“ machen, Diese also als „Türsteher“ für die EU engagieren?



    Oder sollte der EU nicht anfangen die eigenen Grenzen selber(!) zu schützen?



    Dänemark, Ungarn oder Tschechien zeigen doch, das es geht…