EU-Türkei-Gipfel: Ein Wunschlos-glücklich-Paket
Was passiert mit der Balkanroute? Was schlägt die Türkei vor? Wovon profitiert die Europäische Union? Eine Übersicht in Fragen und Antworten.
Was ist das Ergebnis des EU-Gipfels mit der Türkei – und wie ist es zustande gekommen?
Der Sondergipfel ging mit einem „Statement“ zu Ende. Es greift fast alle Punkte auf, die Kanzlerin Merkel und Ministerpräsident Davutoğlu in einem separaten Vortreffen am Sonntagabend ausgekungelt hatten. Merkel behauptet, Davutoğluhabe seine Wünsche „auf einem Zettel“ aufgeschrieben und selbst erarbeitet. Daran zweifeln allerdings viele EU-Experten – sie wollen die Handschrift der Kanzlerin erkennen. Einige EU-Chefs sollen sich denn auch über Merkels Coup beschwert haben, Ungarns Viktor Orbán drohte sogar mit Veto. Doch am Ende kam es gar nicht zur Abstimmung – man einigte sich darauf, alle strittigen Fragen auf den nächsten Gipfel zu verschieben.
Was wird aus der sogenannten Balkanroute?
Sie ist nicht geschlossen, sagte Merkel zu Beginn des Gipfels. Am Ende tauchte die umstrittene Formulierung denn auch nicht mehr auf, die Kanzlerin hatte sich in dieser Frage durchgesetzt. Allerdings willigte Merkel dem neuen Passus zu, wonach „irreguläre Migrantenströme auf der Balkanroute nun zu einem Ende gekommen“ sind. Mehr noch: Im Gipfelpapier heißt es nun, dass „die Migrationskrise in Europa beendet“ werden soll. Nicht nur die Balkanroute ist zu, ganz Europa schottet sich ab.
Worüber wird noch verhandelt, welche Punkte wurden vertagt?
Verhandelt wird noch über die Frage, wie viel zusätzliches Geld die Türkei für ihre Zusammenarbeit bekommen soll. Zunächst war von mehr als 10 Milliarden Euro die Rede, am Ende nur noch von weiteren 3 Milliarden. Vertagt wurde die Frage, ob und wie „legale“ Flüchtlinge aus der Türkei nach Europa umgesiedelt werden können. Bisher hat sich nicht einmal Deutschland offiziell zu diesen neuen Kontingenten bekannt. Und die meisten EU-Staaten – nicht nur die Osteuropäer – lehnen die Aufnahme weiterer Flüchtlinge ab. Beim nächsten EU-Gipfel dürfte es darüber zum großen Streit kommen.
Was verbirgt sich hinter der Eins-zu-eins-Formel?
GipfelPapier
Was die Regierung in Ankara konkret vorschlägt, ist nicht bekannt. In der Gipfelerklärung heißt es lediglich, dass „für jeden Syrer, der von der Türkei von den griechischen Inseln zurückgenommen wird, ein anderer Syrer aus der Türkei in die EU-Staaten umgesiedelt“ werden soll. Diese „legalen“ Flüchtlinge sollten aus Flüchtlingslagern kommen und nicht selbst entscheiden können, in welches EU-Land sie geschickt werden, hieß es beim Gipfel in Brüssel. Es dürfte daher zu streng bewachten Zwangsverschickungen kommen – von den griechischen Inseln in die Türkei, und aus türkischen Lagern in EU-Länder. Deutschland soll dabei nicht mehr das einzige Zielland sein.
Worin liegen hierbei die Vorteile für die EU?
Sie könnte „die Flüchtlingskrise in Europa beenden“, wie die EU-Chefs in ihrem Gipfelpapier freudig feststellen. Außerdem würde die EU ihre Asylpolitik de facto in die Türkei auslagern. Wenn alle EU-Staaten mitmachen, könnte sogar eine solidarische Umverteilung der Asylbewerber in Gang kommen. Dies haben Merkel und die EU-Kommission immer wieder gefordert. Doch bisher leisten die meisten EU-Staaten Widerstand. Offen ist derzeit, was mit Irakern und Afghanen geschieht.
Wie ist das mit EU-Recht vereinbar?
Wohl kaum. Solange die Türkei nicht zum sicheren Drittland erklärt wird, verstößt die pauschale Abschiebung von Schutzsuchenden gegen geltendes Asylrecht, kritisierte die grüne Europaabgeordnete Barbara Lochbihler. Das hat auch Filippo Grandi, Hoher Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, bekräftigt. Die EU-Kommission behauptet dennoch, alles sei rechtlich in Ordnung.
Was bietet die EU der Türkei?
Ein Wunschlos-glücklich-Paket. Die EU will nicht nur die Rückführung der Flüchtlinge aus Griechenland in die Türkei finanzieren, sondern noch weitere Milliardenhilfen obendrauf geben. Zudem sollen „so schnell wie möglich“ neue Verhandlungskapitel für den EU-Beitritt geöffnet werden. Das Sahnehäubchen ist die Zusage, die ursprünglich für Herbst geplante Visaliberalisierung zu beschleunigen – sie soll nun „spätestens Ende Juni“ kommen. Das war das Hauptanliegen der Türkei; schon im Sommer könnten alle Türken visafrei nach Europa reisen.
Was ist mit den Menschenrechten in der Türkei?
Nichts. Man habe darüber gesprochen, sagte Merkel nach dem Gipfel zwar. Doch in der EU-Erklärung heißt es lapidar: „Die Staats- und Regierungschefs haben mit dem türkischen Premierminister auch die Lage der Medien in der Türkei diskutiert.“ Konsequenzen? Keine.
Was sagen die stets lautstarken politischen Kritiker zu dem Deal?
Sie sprechen von „Erpressung“ und einem „Ausverkauf europäischer Werte“. Kritik kommt auch aus der CSU: Man dürfe die Zukunft Deutschlands nicht vom Wohlwollen der Türkei abhängig machen, kritisiert der CSU-Europaabgeordnete Markus Ferber. Sein Fraktionschef Manfred Weber wagte es hingegen nicht, die Kanzlerin offen zu kritisieren. Auch EU-Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD) schweigt.
Stehen Merkel, der amtierende Ratspräsident Rutte und Kommissionschef Juncker jetzt alleine da?
Sie fühlen sich als Sieger und als Retter der viel beschworenen „europäischen Lösung“. Sie habe sich nie allein gefühlt, sagte Merkel – und da ist auch etwas dran: Denn statt der geplatzten „Koalition der Willigen“ stehen nun alle 28 EU-Staaten mehr oder weniger hinter ihrem Kurs. Allerdings hat fast jedes EU-Land nationale Vorbehalte. Beim nächsten EU-Gipfel könnte es also ganz schnell wieder ziemlich einsam um die Kanzlerin werden.
Wie erpressbar ist die Regierung vor den Landtagswahlen in Deutschland?
Offiziell gar nicht. Die türkischen Forderungen wurden beim EU-Gipfel nicht als Erpressungsversuch, sondern als „interessante Vorschläge“ und „ehrgeizige Pläne“ präsentiert. Hinter den Kulissen gab es aber großen Ärger darüber, dass Deutschland und die Türkei die EU mit völlig neuen, nicht abgesprochenen Plänen konfrontieren. Die Überrumpelungstaktik könnte sich jedoch schon beim nächsten EU-Gipfel in der kommenden Woche rächen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels