EMtaz: Die Vorrundenbilanz: Die Nordirlandisierung des Fußballs
Die Fußball-EM wird in der Gruppenphase von den Underdogs bestimmt. Auf den Rängen ist das gut, auf dem Rasen nicht immer.
Sie fühlen sich um ihren verdienten Lohn gebracht. Ein Tor haben die Albaner in der Vorrunde erzielt. Und jetzt? Abflug nach Hause! Unfassbar! „Wettbewerbsverzerrung“, schimpfte Verteidiger Mergim Marvraj, weil die später antretenden Teams wussten, wie sie spielen mussten, um zu den besten Drittplatzierten zu zählen.
Albanien hat bei diesem Turnier ebenso gut gemauert wie Nordirland, Island oder die Slowakei und sogar ein Tor geschossen. Welch bitterer Abgang!
Die europäische Anteilnahme ist ihnen gewiss. Recht gefühlig ist es in den ersten beiden Turnierwochen zugegangen. Und fast alles drehte sich um die kleinen Fußballnationen, die es zu großen Teilen dank des so integrativ angelegten Turniermodus tapfer rackernd, rangelnd und ringend bis ins Achtelfinale geschafft haben.
Sie haben dieser EM ihren Stempel aufgedrückt. Es ist eine Dominanz des Underdogfußballs zu beobachten. Die Erweiterung des Teilnehmerfelds von 16 auf 24 Mannschaften hat es möglich gemacht.
Sprach man nach der Europameisterschaft 2012 in Polen und der Ukraine davon, dass der Fußball etwas spanischer, sprich ballbesitzorientierter und technisch anspruchsvoller geworden sei, kann man analog dazu nun von einer Nordirlandisierung des Fußballs sprechen.
Der Achterriegel
In den Stadien Frankreichs sind derzeit oft zwei tiefstehende eng verknüpfte Viererketten zu sehen, ein Achterriegel, der gern mal noch um ein, zwei weitere Spieler verstärkt wird. Strategisch geprägte Defensivschlachten, deren Unterhaltungswert sich weniger dem Auge als dem Herzen erschließt.
Bei der Partie zwischen Nordirland und Deutschland wies die Torschussstatistik von 2:26 eindrucksvoll den Klassenunterschied zwischen den beiden Teams nach, was den nordirischen Coach Michael O’Neil nicht daran hinderte, hervorzuheben, wie sehr sein Team sich mit diesem Spiel den Einzug ins Achtelfinale verdient habe.
„Mehr als verdient“, fand gar Ungarns Trainer Bernd Storck die eigenen Punktgewinne. Und vor allem die Fans hätten es verdient, nach all den vielen Jahren, in denen es nichts zu feiern gab. Die notorische Erfolglosigkeit verbindet viele der hinzugekommenen Nationen bei diesem Turnier. So steigt fast jeder Punktgewinn in den Rang eines historischen Ereignisses.
Die Betrachtung auf das Turnier hat sich auch deshalb von dem öden Geschehen auf dem Rasen abgewandt und sich den nun fröhlich feiernden, entrückten Fans gewidmet, dem häufig beschworenen Stolz aller, und diesen unglaublichen Außenseiteranekdoten.
Der Basis nah gekommen wie nie
Der vertragslose nordirische Torhüter Michael McGovern oder der isländische Keeper Hannes Thor Halldorsson, der vor Kurzem noch als Filmregisseur arbeitete, sind vor allem aufgrund ihrer Biografien zu Stars dieser EM geworden. Der vielfach besungene Nordire William Grigg ist sowieso bereits eine Legende, obwohl er nicht eine Minute auf dem Platz stand.
Wenn man so will, ist der europäische Fußball mit dieser EM der Basis so nah gekommen wie noch nie. Er ist weniger elitär. Manch ein mittelbegabter Fußballer mag sich in diesen Tagen denken: Ach, wäre ich doch in Island geboren. Und vermarkten lässt sich das Ganze – so der bisherige Eindruck – mindestens ebenso gut. Der Preis, den man dafür zahlen muss, ist eine retardierende Entwicklung auf dem Rasen: die Nordirlandisierung des Fußballs.
Fans in Frankreich
Mit dem Beginn des Achtel- und Viertelfinales kann dieses Turnier aber wieder eine ganz andere Gestalt annehmen. Wenn die kleinen Nationen sich stolz verabschiedet haben, wird vielleicht der Stoff der großen Erzählungen wieder eine direkte Anbindung an das Geschehen auf dem Fußballplatz haben. Bereits das anstehende Duell zwischen Italien und Spanien weckt da große Hoffnungen und Sehnsüchte.
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