Dritte Staffel „Shtisel“: „Es geht hier um nichts und alles“
„Shtisel“ erzählt vom Leben ultraorthodoxer Juden. In Israel ist sie Kult – und zwar genauso unter Orthodoxen wie unter säkularen Tel Aviver Hipstern.
Doch zur Überraschung aller wurde die Geschichte der Familie Shtisel in Israel eine Sensation – zuerst 2013 auf dem israelischen Satellitensender Yes, seit 2018 läuft sie bei Netflix, ab da brach die „Shtiselmania“ auch international aus. Seit Donnerstag ist die dritte Staffel auf dem Streamingsdienst zu sehen, auch in Deutschland. „Shtisel“-Fans auf der ganzen Welt wollen wissen, wie es mit Shulem Shtisel (Dov Glickman) und seinen Kindern Akiva, Ben Zvi und Giti weitergeht.
„Es explodierte einfach“, sagt Neta Riskin. Als die Hauptdarsteller*innen von „Shtisel“ zu einer Lesereise nach New York kamen, musste die Polizei dort die Hauptader Sixth Avenue sperren, so groß war der Andrang der Fans.
Dabei passiert in der Serie eigentlich nicht viel. Oder anders: In der säkularen Welt außerhalb des strengreligiösen Jerusalemer Viertels Geula, in dem „Shtisel“ spielt, würden viele der erzählten Geschichten kaum Spannung erzeugen. Doch unter den Ultraorthodoxen, die sich selbst als Haredim bezeichnen, mit ihren eigenen strengen Regeln, ist Drama unumgänglich.
Zwei getrennte Welten
Akiva (Michael Aloni) beispielsweise, der Sohn von Shulem Shtisel, stößt mit seinen künstlerischen Ambitionen an die Grenzen der haredischen Gesellschaft. Giti, die Tochter, gespielt von Neta Riskin, wird von ihrem Mann sitzen gelassen und versucht, ihre Familie zu ernähren und ihre Kinder vor einem schlechten Image zu bewahren. Andere Handlungsstränge funktionieren auch universell: Etwa wenn das alternde Familienoberhaupt Shulem erfährt, dass der Heiratsvermittler ihn einst mit den Worten „Isst und raucht“ in seinem Notizbuch charakterisiert hat. Eine Folge lang sehen wir Shulem dabei zu, wie er aus Sorge um seinen Ruf versucht, seiner Familie ein anderes Bild von sich zu zeigen.
Schauspielerin Riskin vergleicht „Shtisel“ mit der legendären US-Sitcom „Seinfeld“ der neunziger Jahre, die von vielen als „Show über nichts“ beschrieben wurde. „In Seinfeld geht es um nichts“, sagt Riskin: „In ‚Shtisel‘ geht es um nichts und alles.“
Das Erstaunlichste am Erfolg der Serie ist allerdings die Zusammensetzung ihrer Fans. Die speisen sich nämlich aus jenen zwei getrennten Welten, die sich nicht selten feindselig gegenüberstehen und auch in der Serie das Fundament der Geschichten bilden. Säkulare Tel Aviver Hipster lieben die Serie genauso wie Strengreligiöse aus ultraorthodoxen Zentren wie Bnei Brak und Jerusalem – zumindest die unter ihnen, die sich Fernsehen und Internet erlauben.
Für sie hält die Serie eine revolutionäre Erfahrung parat: „Zum ersten Mal werden Ultraorthodoxe in einer kommerziellen Serie in einem positiven Licht gezeigt“, sagt Yaffa Solomon, Ehefrau eines ultraorthodoxen Rabbiners. Wir finden sie über eine Facebook-Seite, auf der sich religiöse Fans der Serie austauschen. Shtisel im col ha lomdes veke – „Shtisel mit all seiner Interpretationsfähigkeit und so weiter“, etwa so lässt sich der Name der hebräischsprachigen Gruppe übersetzen. Mehr als 6.000 Mitglieder diskutieren dort über Fragen, die mit ihrem religiösen Leben und „Shtisel“ zu tun haben oder spinnen Witze der Serie weiter.
Yaffa Solomon fühlt sich durch „Shtisel“ in die Zeit ihrer Kindheit zurück versetzt. Sie sei in einer ultraorthodoxen Familie in Jerusalem aufgewachsen, führe noch immer ein ultraorthodoxes Leben, wenn auch eher „light“. Das Internet zum Beispiel ist eigentlich in vielen haredischen Strömungen tabu – oder höchstens zensiert zu benutzen. Mit ihrer Familie lebt Solomon mittlerweile im säkular geprägten Ashkelon, südlich von Tel Aviv. „Wer ‚Shtisel‘ gesehen hat, fängt an, uns zu sehen“, sagt sie. „Diejenigen in meiner Nachbarschaft, die ‚Shtisel‘ gesehen haben, blicken auf die haredische Welt plötzlich mit mehr Sympathie.“
Aus Neugier und mit Scham
Geschrieben und erdacht wurde die Serie von Ori Elon und Yonatan Indursky. Beide sind ultraorthodox aufgewachsen und leben heute säkular. Vielleicht sind sich viele Haredim deswegen so einig, dass die ultraorthodoxe Welt in der Serie im Großen und Ganzen realistisch wiedergegeben wird. Auch Avraham Burstein, der eine kleine Rolle spielt und einer der wenigen Schauspieler in der Serie ist, die auch in Wirklichkeit ultraorthodox leben, hält die Serie für authentisch – abgesehen von kleinen Schnitzern.
Man sollte meinen, dass die Serie unter diesen Bedingungen nichts für Säkulare sein kann. Schließlich stellt sie eine Welt positiv dar, die von Säkularen heftig kritisiert wird. Feminist*innen kritisieren die Unterdrückung der orthodoxen Frauen, andere kritisieren die Einschränkungen der individuellen Freiheiten und die Zensur, der sich Ultraorthodoxe unterwerfen. Doch trotz der Streitpunkte schauen auch viele Säkulare die Serie.
Die Berlinerin und „Shtisel“-Guckerin Frauke Groner war zunächst nur neugierig. Groner hat eine Weile in London gelebt, in direkter Nachbarschaft einer haredischen Gemeinschaft, sagt sie. „Ich habe sie dort immer als das Andere empfunden, als Menschen, die meine Werte nicht teilen und nichts mit mir zu tun haben wollen.“ Doch mit der ersten Folge von „Shtisel“ habe sie das Gefühl gehabt, mit ebendiesen Personen im Wohnzimmer zu sitzen. Sie verliebte sich in die Figuren, in ihre Widersprüche, ihre Sehnsüchte.
Es mag die Neugier sein, die viele Säkulare zunächst vor den Bildschirm lockt, aber dabeibleiben dürften sie aus anderen Gründen: wegen der Figuren mit Tiefe, des überzeugenden Skripts und der poetisch-melancholischen Erzählweise.
Groner als Feministin findet es allerdings auch verstörend, dass sie die Serie so liebt. „Ganz viel, was in ‚Shtisel‘ passiert, kann ich eigentlich nicht gut finden“, sagt sie: „Und ich vermute, dass das Patriarchale etwas weichgespült ist.“
Kein Urteil über Ultraorthodoxe
Eine Serie, die ultraorthodoxes Leben ganz anders zeigt, ist die preisgekrönte Netflix-Miniserie „Unorthodox“ aus dem Jahr 2020. In vier Episoden erzählt sie die Geschichte von Esther Shapiro, einer jungen Frau, die sich aus den patriarchalen Strukturen der ultraorthodoxen Gemeinschaft der Satmarer in New York befreit und in Berlin ein neues Leben beginnt. Verkörpert wird Esther von Shira Haas, die auch in „Shtisel“ eine tragende Rolle spielt. „Unorthodox“ basiert lose auf dem 2012 erschienenen Memoir desselben Titels von Deborah Feldman, fügt dem allerdings einen fiktiven Handlungsstrang in Berlin hinzu.
„Unorthodox“ ist eine Befreiungsgeschichte. Sie stellt die beiden Welten und ihre unterschiedlichen Werte einander gegenüber; Szenen, in denen die jung verheiratete Esther Shapiro von ihrem Mann trotz Schmerzen zum Sex gedrängt wird, und der Druck der Familie, der auf sie ausgeübt wird, machen es den Zuschauer*innen beinahe unmöglich, sich mit der ultraorthodoxen Seite zu identifizieren.
„Shtisel“ geht anders vor, die Kamera bleibt in den haredischen Vierteln Geula und Mea Shearim. Nur selten setzt eine der Figuren ihren Fuß in die säkulare Außenwelt. Damit werden die Geschehnisse nicht der Prüfung nach säkularen Maßstäben ausgesetzt. Gleichzeitig wird es so möglich, einzutauchen in die Gefühlswelt von Menschen, von denen wir glauben mögen, wir hätten nicht viel mit ihnen gemeinsam. Wir lernen ihre Sehnsüchte kennen, ihre Wünsche und persönlichen Fehler. Die Serie selbst fällt kein Urteil über das Leben der Ultraorthodoxen.
„Shtisel“, alle drei Staffeln stehen bei Netflix zum Streaming bereit
Möglicherweise ist in der Geschichte auch noch eine Form des Feminismus verborgen, die anders berührt als die klare und eindeutige Botschaft von „Unorthodox“. So zumindest sieht es Neta Riskin, die sich drei Monate lang auf die Rolle vorbereitete, sich an Wochenenden in strengreligiösen Familien in Jerusalem abguckte, wie sie essen, beten, sprechen und gehen.
„Nehmen wir Homers ‚Odyssee‘“, sagt sie und schlägt damit gleich einen Bogen von den Anfängen des Storytellings bis heute. „Wir folgen seinen Affären, seinen Kriegen, seinem Scheitern. Seine Frau sitzt währenddessen zu Hause und wartet. In den letzten zehn, zwanzig Jahren wurde das Verhältnis mitunter umgedreht: Die Frau erobert die Welt, der Mann bleibt zu Hause.“ „Shtisel“ breche mit dieser klassischen Erzählweise. Bei „Shtisel“ folgt die Kamera nicht denen, die losziehen. Wir verfolgen nicht die Abenteuer von Gitis Mann, der nach Argentinien geht, um „endlich mal für sich zu sein“, sondern wir bleiben bei Giti, bei ihrer Sorge ums Geld und um das Wohl ihrer Kinder. „In gewisser Weise“, sagt Riskin, „ist das die feministischste Geschichte überhaupt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül