Diversität im Theater: Mit fremden Federn geschmückt
Wenn große Repertoiretheater mit der freien Szene zusammenarbeiten, wird ihr Angebot vielfältiger. Aber sie verlieren auch den Kern ihrer Marke.
Wenn im frisch renovierten Foyer eines Theaters nur die eigenen Schritte widerhallen, bleibt Befremden zurück. Es fehlt etwas im hell erleuchteten Wiener Volkstheater. Das Gemurmel der Besucher:innengruppen, die für diesen Moment zu Citoyens und Citoyennes werden, die über öffentliche Angelegenheiten räsonieren. Die Verlustanzeige gilt selbst schlechtem Parfüm und Hüsteln vor Beginn einer Vorstellung. Wie archäologische Kleinstfunde markieren solche Wahrnehmungen die Überbleibsel einer Öffentlichkeit, die (noch) nicht medial vermittelt ist, sondern in lokaler Präsenz physisch erfahrbar bleibt.
Es ist Samstagabend. Der Regisseur Sebastian Baumgarten übersetzt mit „Der Würgeengel“ narrative Elemente von Luis Buñuels Film „El ángel exterminador“ mit einem aus der Filmgeschichte inspirierten neoexpressionistischen Bühnensetting in gegenwärtige Gesellschaftserfahrung. Den cinephilen Stoff genießen – soweit zählbar – 120 Zuschauende.
Auch wenn der Rückgang hier mit am deutlichsten ausfallen mag, ist das Volkstheater in Wien keineswegs das einzige Haus, das um Publikum kämpft. Dabei hat es signifikante Erfolge aufzuweisen. Mit der Produktion „humanistää!“ von Claudia Bauer mit Texten von Ernst Jandl etwa läuft das Haus, was symbolische Geltung durch überregionale Auszeichnungen und Einladungen betrifft, dem zunehmend behäbigen Programm am benachbarten Burgtheater den Rang ab.
In der Schweiz bläst dem Zürcher Schauspielhaus unter der Leitung von Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg bei rückläufigen Abozahlen scharfer Wind nicht nur der Rechtspopulisten entgegen. Die Volksbühne hat im Berliner Theatergefüge mit einem Schlag ihre über Jahre ausgeübte Hegemonie eingebüßt und sucht inhaltliche Orientierung oder, in die Sprache der Absatzwirtschaft übersetzt, ihren Markenkern.
Anbieter schließen sich zusammen
Den Absatz in einem tendenziell rückläufigen Markt sollen vielerorts Rabattmöglichkeiten jenseits des Abonnements ankurbeln. In Wien schließen sich Anbieter aus Theater, Oper und Konzert zu einer Art digitalem Kartell zusammen, das auf die Nutzung verstärkender Netzwerkeffekte aus ist. Auf einer eigenen Plattform im Netz werden Nutzer:innen entsprechend ihrer getätigten Einkäufe per Algorithmus immer neue Angebote zugespielt, was langfristig Bestseller fördert und die Vielfalt des Marktes eher verarmt.
Die ästhetischen Strategien, mit denen die betroffenen Häuser den Horror Vacui im Zuschauerraum bekämpfen, liegen – Markenkern hin oder her – weniger im Hauptgeschäft als in der Diversifizierung. Eine Konzertserie adressiert am Wiener Volkstheater den popkulturellen Nerv eines fortschrittlichen Publikumssegments, sorgt wirtschaftlich aber nur für einmalige Aufbesserungen der Auslastungszahlen.
Die Einverleibung von Markenprodukten aus anderen Künsten kann ebenso als Krisenstrategie gelesen werden. Galten interdisziplinäre Arbeiten unter dem Einschluss bildender Künstler:innen lange als besonders erstrebenswert in den darstellenden Künsten, bildet der öffentlich finanzierte Theaterbetrieb für etablierte Marken des Kunstmarkts heute ein attraktives Wertsteigerungsinstrument. Auch hier dominieren Einmaleffekte und mangelnde Kompatibilität mit dem Tagesbetrieb. Eine aufwändige Produktion von und mit Jonathan Meese, Premiere Anfang November, hat nach derzeitiger Planung bis März genau zwei weitere Aufführungen im Volkstheater.
Unfaire Konkurrenz
Zunehmend nähern sich die Repertoiretheater Formen künstlerischer Praxis, die einst in bewusstem Gegensatz zu ihrem Betrieb entstanden sind. Sie kannibalisieren vielerorts die freie Szene, in ihren Nischenprodukten wie in ihren Bestsellern. Damit werden sie leicht zur unfairen Konkurrenz gegenüber deren bisherigen Produktions- und Distributionsstrukturen. Sie absorbieren unter anderem kleinteilige Produktionen in einer gewachsenen Zahl von Nebenspielstätten, erreichen aber mit mehr Aufführungen trotzdem nicht mehr Zuschauer:innen.
Budgets, die für den Betrieb mit Ensemble und Repertoire knapp bemessen waren, entfalten in der deregulierten Arbeitsweise der freien Szene eine große Marktmacht. Das trifft selbst auf jenen Teil der Szene zu, der eine prekäre Existenz überwunden hat, überregional agiert, geschickt und professionell Fördertöpfe auf allen Ebenen anzapft und bisweilen sogar selbst globale Marken hervorbringt. Andererseits wird der politische Auftrag, mit einem arbeitsrechtlich abgesicherten Ensemble vor Ort regelmäßig Repertoirevorstellungen anzubieten, mit einer solchen Praxis unterhöhlt.
Die Volksbühne in Berlin eröffnete ihre Spielzeit mit einer Arbeit der Choreografin Florentina Holzinger „Ophelia’s Got Talent“, die in einer rasanten künstlerischen Entwicklung mit Anfängen in Wien mittlerweile zu einem regelrechten Global Player wurde. Der Qualität und der politischen Relevanz ihrer Arbeit tut das keinen Abbruch. Die Zuspitzung neoliberaler Konkurrenz lässt zu Personalisierung und Markenpflege keine Alternative. Die Volksbühne wird damit zu einem von vielen Gigs in einer medial vermittelten Öffentlichkeit, die ihr Publikumspotenzial nicht mehr nur an einem Ort hat und nicht allein aus einem Ort speisen kann. Sie ist Teil eines globalisierten Verwertungsmodells, für das Chris Dercon 2017 in Berlin aufs Heftigste skandalisiert wurde.
Zurück nach Wien: Einst für ca. 1.500 Sitzplätze erbaut und über die Jahrzehnte immer weiter reduziert, bleiben nach der jüngsten Renovierung noch immer 832 Plätze im Wiener Volkstheater. Das ist eine Dimension, die sich nicht mehr wie ein Szene-Ort aus der Affinität von Lebensstilen und Konsumpraxis heraus organisieren lässt. Man braucht auch die, deren Geschmäcker man verabscheut.
Große Theater sind Anachronismen
Große Theater sind Anachronismen in einer Gesellschaft, die sich immer mehr in voneinander abgrenzende Milieus ausdifferenziert, die ihre Identitäten entlang einer ausgesuchten (alltags)kulturellen Praxis herausbildet und sie nicht mehr nur vom ökonomischen Status ableitet. Der gesamte Kulturbetrieb gerät immer mehr in den Dienst der Reproduktion von Milieuidentitäten, die „feinen Unterschiede“ zeigen sich im Kulturkonsum.
Die politische Bedeutung der Theater liegt aber gerade darin, Orte zu sein, an denen sich unterschiedliche gesellschaftliche Milieus überhaupt noch begegnen können, sie sind Teil des raren Zwischen-Raums, in dem über öffentliche Angelegenheiten mit den Mitteln der Kunst verhandelt werden kann.
Es steht nicht nur ein historisch gewachsenes Organisationsmodell des Theaters zur Disposition. Eine langwährende Hegemonie bürgerlicher Kultur kommt endgültig an ihr Ende, damit aber auch ein seit den Bildungsreformen der 1970er Jahre betriebenes fortschrittliches Projekt, Werte einer bürgerlichen Kultur als „Kultur für alle“ mit einem gesellschaftlichen Aufstiegsversprechen zu verbinden.
Die neoliberale Ära hat aus der Forderung politischer Gleichheit ein Versprechen zur Selbstverwirklichung durch identitätsstiftende Konsumpraxis gemacht. Wo könnte ein neues fortschrittliches Projekt für die kulturelle Praxis und damit für das Theater liegen?
Im Horizont der Städte ist es zu finden. In Wien waren bei der jüngsten Wahl 28 Prozent der erwachsenen Bevölkerung nicht wahlberechtigt. Ihre Kinder werden es möglicherweise auch nicht sein, weil die „systemrelevanten“ Berufe, in denen sie arbeiten, nicht genug Einkommen für den Staatsbürgerschaftsantrag erzielen. Wenn sich die Frage von Diversität im Theater nicht nur damit begnügt, die Eliten bunter zu machen, sondern den Anspruch erhebt, die Repräsentation der Stadtgesellschaft ihrer realen Gestalt anzunähern, könnte was draus werden.
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