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Diskussion um afghanische GeflüchteteKeine Angst vor einem neuen 2015

CDU-Kanzlerkandidat Laschet behauptet, „wir“ dürften „die Fehler von 2015 nicht wiederholen“. Doch dieses Jahr festigte die Solidarität ganzer Milieus.

Zwischenlandung in Usbekistan: ein aus Afghanistan gerettetes Paar Foto: Marc Tessensohn/Bundeswehr/dpa

D ie Entwicklung in Afghanistan hat ein derartiges Potenzial für künftiges Leid, dass es getrost auf eine Stufe mit dem Syrienkrieg gestellt werden kann. Dem Christen Armin ­Laschet fiel dazu die Warnung ein, „wir“ dürften „die Fehler von 2015 nicht wiederholen“. Viele behaupteten, Laschet habe den – tatsächlich begangenen – Fehler gemeint, dass die internationale Gemeinschaft nicht ausreichend humanitäre Hilfe rund um Syrien geleistet habe.

Aber Laschet meinte mitnichten nur das. Er sagte auch: „Ich glaube, dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann.“ Das ist ein Zerrbild von „2015“, mit dem Laschet Ängste vor einem Kontrollverlust des Grenzregimes adressiert. Deutschland, dessen Innenminister sich über 69 abgeschobene Afghanen zu seinem 69. Geburtstag freut, hat nie das Signal ausgesandt, „alle, die in Not sind“, aufzunehmen.

Tatsächlich wurde seit 2015 ein schwer zu überwindender Kordon von Barrieren auf dem Weg nach Europa errichtet. Gleichzeitig ist die staatliche Bereitschaft zur – auch tödlichen – Gewaltanwendung gegen Flüchtlinge gestiegen, wie sich im Februar 2020 an der griechisch-türkischen Grenze zeigte.

2015 war ein historischer Moment der Solidarität, in dem der Wille der Flüchtlinge, selbst ihr eigenes Überleben zu sichern, auf die gesellschaftliche Bereitschaft traf, ihnen dazu eine Chance zu geben. Nicht nur als Christ könnte man heute an dieses Gefühl appellieren.

Schon 2015 haben viele versucht, die „Willkommenskultur“ als Strohfeuer kleinzureden, das zwangsläufig bald ins Gegenteil umschlagen müsse. Tatsächlich hat „2015“ ganze Milieus der Solidarität gefestigt und erweitert. Die „Seebrücken“-Bewegung, die an diesem Wochenende in 70 Städten für die Aufnahme aus Afghanistan demonstriert, ist nur ein Teil davon.

Aus dem gesellschaftlichen Impuls von 2015 sind Initiativen für Hunderte kommunaler und mehrere Landesaufnahmeprogramme hervorgegangen. Sie waren es, die eine angemessene Antwort auf die Katastrophe in Afghanistan zu geben imstande waren: Wir haben keine Angst vor einem neuen „2015“. Wir haben Platz für die, die in existenzieller Not sind.

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Christian Jakob
Reportage & Recherche
Seit 2006 bei der taz, zuerst bei der taz Nord in Bremen, seit 2014 im Ressort Reportage und Recherche. Im Ch. Links Verlag erschien von ihm im September 2023 "Endzeit. Die neue Angst vor dem Untergang und der Kampf um unsere Zukunft". 2022 und 2019 gab er den Atlas der Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit heraus. Zuvor schrieb er "Die Bleibenden", eine Geschichte der Flüchtlingsbewegung, "Diktatoren als Türsteher" (mit Simone Schlindwein) und "Angriff auf Europa" (mit M. Gürgen, P. Hecht. S. am Orde und N. Horaczek); alle erschienen im Ch. Links Verlag. Seit 2018 ist er Autor des Atlas der Zivilgesellschaft von Brot für die Welt. 2020/'21 war er als Stipendiat am Max Planck Institut für Völkerrecht in Heidelberg. Auf Bluesky: chrjkb.bsky.social
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4 Kommentare

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  • Man darf sich überlegen, was sich aus 2015 nicht wiederholen darf.

    Vielleicht das warmherzige, unendlich aufopfernde ehrenamtliche Engagement vieler Mitbürger.

    Wehret dem Ehrenamt, Herr Laschet!

  • Gute nachrichten für laschet. Die unangenehme frage von Ingo Zamperoni "Da klammern sich verzweifelte menschen an startende flugzeuge und ihre grösste sorge ist, dass sich 2015 hier bei uns nicht wiederholt" muss er, "für den das c nicht nur ein buchstabe ist, sondern kompass", nicht länger fürchten.

    Denn "Der Postillon" meldet gute nachrichten. Kalenderhersteller geben "entwarnung: Laut berechnungen anhand des gregorianischen kalenders wird sich das jahr 2015 mit absoluter sicherheit nicht wiederholen... Stattdessen steigen jahreszahlen laut experten bereits seit mehr als 2000 jahren kontinuierlich an. "Dass politiker und medien hier eine solche angst schüren, ist völlig übertrieben und hat nichts mit den fakten zu tun", erklärt etwa die chronologin Angela Foß. "Genauso wahrscheinlich wäre es, dass sich das jahr 1349 wiederholt und wir alle an der pest sterben."

    Quelle:



    www.der-postillon.com/2020/09/2015.html

  • „Ich glaube, dass wir jetzt nicht das Signal aussenden sollten, dass Deutschland alle, die jetzt in Not sind, quasi aufnehmen kann.“

    Natürlich nicht "Alle", aber so viele wir können. Und das sind sehr sehr viele!

  • Danke!