Diskussion über Erinnerungspolitik: Der absolute Genozid
In welchem Verhältnis stehen Shoah und koloniale Verbrechen zueinander? Eine Tagung an der TU Berlin versuchte sich an Antworten.
Streiten wollte man sich nicht. Dabei hätte es vielleicht ein produktiver Streit werden können über die sogenannte deutsche Erinnerungskultur, über die seit Monaten diskutiert wird.
Das Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin (ZfA), zuletzt eher durch großen Einsatz im Bereich des Postkolonialismus aufgefallen, und das Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) hatten zu einer Tagung zum Thema Erinnerungskultur und Zusammenhalt in die TU geladen.
Unter dem Titel „Zwischen Singularität und Verflechtungsgeschichte. Erinnerungspolitische Kämpfe um Shoah, Kolonialismus und Bedürfnisse der Gegenwart“ trafen am Montagabend der Historiker Dan Diner, Bénédicte Savoy (internationale Expertin für Kunstraub und Restitutionsberaterin von Emmanuel Macron) und María do Mar Castro Varela (Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Postkolonialismus) aufeinander.
Eine interessante Besetzung, die eine kontroverse Diskussion versprach, aber gleich zu Beginn der Veranstaltung stellte die Leiterin des ZfA Stefanie Schüler-Springorum als Moderatorin des Abends klar, keinen erinnerungspolitischen Kampf ausfechten zu wollen.
Schriller Aktivismus
Wie aggressiv die Debatte um das Verhältnis von Holocaust und kolonialer Gewalt und damit um Antisemitismus und Rassismus mittlerweile geführt wird, zeigte auch Schüler-Springorums Erklärung, die „üblichen Schützengräben“ vermeiden zu wollen. Statt wohlfeile Twitterzitate zu produzieren, wolle man das inhaltlich fokussierte Gespräch suchen.
Ein Seitenhieb der Moderatorin gegen den australischen postkolonialen Historiker Dirk A. Moses, der im erinnerungspolitischen Umgang mit dem Holocaust einen angeblichen „deutschen Katechismus“ erkennen will, über den selbsternannte „Hohepriester“ wachten? Dessen schriller Aktivismus, der auch von rechten Identitären wie Martin Sellner goutiert wurde, dürfte dem postkolonialen Einsatz jedenfalls eher einen Bärendienst erwiesen haben.
Der Historiker Norbert Frei kommentierte Moses in der SZ treffend: „Betrachtet man Moses’ Einwände gegen den angeblichen „Katechismus der Deutschen“ genauer, wird allerdings auch klar, dass es um Verbesserungen – etwa der Bildungsarbeit zur Zeitgeschichte in einer postmigrantischen Gesellschaft – gar nicht geht. Ziel ist vielmehr die Etablierung neuer Regeln: Der Holocaust soll „kontextualisiert“, Antisemitismus soll als bloße Unterform eines allgegenwärtigen Rassismus verstanden werden, und keinesfalls darf weiterhin die Einsicht gelten, dass Antisemitismus sich als Antizionismus verkleiden kann.“
Von Moses grenzte sich am Montagabend auch María do Mar Castro Varela ab – Autorin einer gemeinsam mit Nikita Dhawan verfassten Einführung in die postkoloniale Theorie –, die dessen Polemik unangemessen fand. Michael Rothbergs Vorschlag für eine multidirektionale Erinnerung mochte sie auch nicht zustimmen. Die komme irgendwie einer Exitstrategie gleich, nach dem Motto „Wir denken irgendwie an alle Opfer“, das funktioniere nicht. Demgegenüber wolle sie die globalen Verflechtungen anschauen, auch zwischen dem, was vergessen gemacht worden sei, und dem, was erinnert werde.
Materielle Erinnerungen
Auch Bénédicte Savoy erinnerte an „Techniken des Vergessenmachens“. Die aktuelle Restitutionsdebatte sei schon einmal vor 40 Jahren geführt worden. Sie sei überrascht gewesen von der enormen Gewalt, die in den Museen, den Kellern und Archiven zum Vorschein gekommen sei, als sie begann, sich mit der Restitution von afrikanischen Kulturgütern zu beschäftigen.
Materielle Kristallisationspunkte der Erinnerung nennt sie die Objekte. Die Museen würden zu Endlagern von materiellen Erinnerungen. Mit der Rückgabe von 2,5 Tonnen Material nach Benin durch Macron am 9. November sei für sie jedoch ein Durchbruch erreicht: „Wir sind jetzt in einer neuen Ära.“
Castro Valera knüpfte hier an. Auch Edward Saids „Orientalism“, für postkoloniale Theoretiker eine Art Bibel, sei erst 20 Jahre später in Deutschland angekommen. Said möchte darin zeigen, wie ein eurozentristischer Blick auf die arabische Welt und eine tiefe Islamfeindschaft herrschaftskonstituierend wurden. Ein Werk, dessen Wissenschaftlichkeit oft angezweifelt worden ist.
Die Tat ist entscheidend
Präziser wurde Dan Diner und brachte das Strafrecht ins Spiel. Die Restitutionsfrage sei eine sehr interessante Frage, weil sie die materielle Seite der Vergangenheit betreffe, aber auch Gedächtnisse hätten einen materialistischen Charakter. Nicht das Gerede über Gedächtnis und Erinnerung sei entscheidend, sondern die Tat selbst.
Es gebe keine Richterskala des Leidens, Leiden sei immer absolut, aber es gebe eine Unterscheidung von Tod und Tod, was zwar ethisch schwer verdaulich sei, aber um Gedächtnisdebatten zu verstehen, müsse man in den Abgrund schauen: Was ist das für ein Tod, der erlitten wurde?
„Nach innen“ unterscheiden und qualifizieren wir ständig, so Diner, nämlich zwischen Totschlag, Mord etc., aber zwischen unterschiedlichen kollektiven Formen von Tötung zu unterscheiden falle schwer und stoße auf moralische Abwehr. Es beginnen dann die kollektiven Zuordnungen, es kommen die Bilder über die Anderen dazu, die Narrative setzen ein, das Bewusstsein erblindet, so Diner.
Die Unterschiede zwischen kollektiv begangenen Gewaltverbrechen sind für Diner evident. Während Savoy sich berührt zeigte von Diners Ausführungen, mahnte Castro Valera, dass in einer zunehmend pluralen Gesellschaft auch Erinnerung sich verändere. Auch Migrant:innen wollten sich ihrer Toten erinnern, auch ihre Traumata vererbten sich über Generationen.
Überall und alle an jedem Ort
Wie verbindet man also den universalistischen Anspruch der Gleichheit und Würde aller Menschen mit dem historischen Blick auf unterschiedliche Gewalt, wollte die Moderatorin wissen.
Diner wiederholte, das Leiden sei nicht qualifizierbar. Aber auch verbunden mit der Restitutionsfrage trete die eigentliche Tat klar hervor: Nach 1945 stellte man fest, so Diner, dass es Eigentum, aber keine Erben gab: Der absolute Genozid habe erbenloses Eigentum hinterlassen. Da müsse doch etwas in einem rebellieren, fragte er zurück. Alle waren ausgerottet, „also gibt es wohl so etwas wie den absoluten Genozid“.
Beinah verzweifelt wirkte sein Rückgriff auf das Wort Endlösung, um verständlich zu machen, worum es in der Shoah doch ging: „überall und alle an jedem Ort!“ Unser Streben nach kollektiver Gleichheit sollte uns nicht daran hindern, die Unterschiede zwischen Massaker, ethnischer Säuberung und absolutem Genozid festzustellen, appellierte er völlig richtig.
Statt über Gedächtnis und Erinnerung zu schwafeln, müsse man analog zum innerstaatlichen Strafrecht Begriffe entwickeln, um die Taten zu qualifizieren. Hier stehe man noch immer am Anfang.
Postkoloniale Glaubenssätze
Einem jungen Mann im Publikum fehlte in Diners Analyse die Kritik der westlichen Episteme, ihm fiel dazu ein, das Strafrecht als Referenzpunkt für die Unterscheidung der unterschiedlichen Tode sei eine westliche Persepktive, weil in nichtwestlichen Gesellschaften der westliche Täterbegriff nicht unbedingt existiere.
Castro Valera wiederholte ermutigt die Grundsätze der postkolonialen Theorie über die desaströsen Folgen einer europäischen Vormachtstellung sowie die Provinzialität, Normen und Zusammenleben nur auf eine bestimmte Weise zu denken. In Anlehnung an die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak schlug sie affirmative Sabotage vor – auf epistemologischer Ebene die Mittel des Westens zu nutzen, um sie gegen ihn zu wenden.
Dan Diner hingegen begrüßte, dass die unterschiedlichen Gedächtnisse in universeller Absicht beginnen, sich gegenseitig abzugleichen, und insistierte, man müsse bitte stets konkret historisch bleiben, letztlich gehe es um Herrschaft und darum, wie sie sich konstituiert. Man kann nur hoffen, dass wenigstens hinter diesen Punkt niemand zurückwill.
Der Abend jedenfalls zeigte: Kein Streit ist auch keine Lösung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Streit um Neuwahlen
Inhaltsleeres Termingerangel
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Überwachtes Einkaufen in Hamburg
Abgescannt
Lehren aus den US-Wahlen
Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen?
Linkspartei nominiert Spitzenduo
Hauptsache vor der „asozialen FDP“
Obergrenze für Imbissbuden in Heilbronn
Kein Döner ist illegal