Diskriminierung, Diskussion und Identität: Kritik an den Verbündeten

Gerade Leuten aus dem eigenen Lager fällt es schwer, sich gegenseitig die andere Meinung zu verzeihen. Dabei geht es oft nur um Nuancen.

Illustration von zwei Händen, die aufeinander zeigen

Jene, die uns eigentlich ähnlich sind, bekämpfen wir besonders leidenschaftlich Foto: Gary Waters/imago

Stellen wir uns einmal vor, nur so „for the sake of the argument“, ich wäre der Meinung, dass alle besonders diskriminierten Minderheiten ein Recht darauf haben, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden. Und stellen wir uns vor, Sie wären im Gegensatz zu mir der Meinung, alle diskriminierten Minderheiten hätten ein Recht darauf, eine Stimme zu haben und Gehör zu finden, wir sollten aber zugleich vermeiden, in die Falle der Fragmentierung zu tappen.

Stellen wir uns des Weiteren vor, ich sei der Meinung, besonders diskriminierte Minderheiten sollten nun bevorzugt die Bühne bekommen und alle anderen sollen jetzt einmal für eine Weile die Klappe halten. Und Sie wären im Gegensatz zu mir der Meinung, besonders diskriminierte Minderheiten sollten nun auch eine Bühne bekommen, wir sollten aber immer auch darauf achten, Mehrheiten und Allianzen für gemeinsame Anliegen zu umwerben.

Ich sage dann vielleicht, Sie würden das jetzt wieder viel zu sehr vom hegemonialen Zentrum der Mehrheiten her denken, Sie dagegen erwidern, ich würde Gefahr laufen, eine Sprache der Spaltung anzuschlagen. Stellen wir uns überdies vor, ich bin für absolute Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben und überdies für Respekt vor Malochern am Bau und Angestellten im Büro, und Sie sind das ebenso, nur mit im Detail anderer Schwerpunktsetzung oder Wortwahl.

Stellen wir uns vor, ich bin für Respekt vor der Lebensleistung einer Fabrikarbeiterin, die ihr Leben lang am Band gearbeitet hat, sowie für die Verbesserung der rechtlichen Lage von migrantischen Pflegekräften oder Paketausfahrern. Und Sie sehen das auch nicht sehr viel anders. Was meinen Sie? Sollten wir uns die Köpfe einschlagen? Ist irgendeines dieser fiktiven „Ichs“ oder „Sies“ gar ein schlechter Mensch?

Kein Grund zum Kampf

Stellen wir uns noch einmal vor, wir wären in so ziemlich allen grundsätzlichen, unser Wertefundament berührenden Fragen einer Meinung, hätten aber ein paar Differenzen darüber, wie wir mit Menschen umgehen, die diese Meinung nicht teilen (ich will mit denen reden, Sie nicht, was ich wiederum extrem dumm finde, was dann wiederum Sie extrem dumm finden).

Und vielleicht haben wir auch diese gewissen Unterschiede im Erfahrungshintergrund, was nicht besonders störend wäre, würden wir uns die bei einem Bier oder Glas Wein erzählen. Sollte das ausreichen, uns Kämpfe miteinander ausfechten zu lassen? Meine bescheidene Meinung ist: Nein. Aber genau das passiert täglich im linken Sektenwesen und neuerdings sogar in der alten Tante SPD.

Wolfgang Thierse sagt was, irgendwer ist dagegen, Gesine Schwan grüßt falsch, es gibt Aufregung, Thierse ist dann wieder beleidigt, irgendwer entschuldigt sich wiederum unnötig, Thierse droht mit Parteiaustritt. Sektierertum prallt auf Ego, und schon kloppt sich die Neigungsgruppe Weltverbesserung ­untereinander, der gemeinsame Gegner lacht sich schlapp, und Cicero freut sich über Interviews mit vielen Klicks. Kinder, Kinder.

Zu viel Lärm um so wenig

Ich muss da immer an Sigmund Freuds grandiose Formulierung vom „Narzissmus der kleinen Differenz“ denken. Jene, die uns eigentlich ähnlich sind, bekämpfen wir besonders leidenschaftlich, da wir uns von denen ja stärker abgrenzen müssen als von jenen, bei denen sich die Abgrenzung von selbst versteht.

Freud hatte da als Österreicher selbstredend ein besonderes Sensorium dafür, weil wir Ösis, ich darf das hier verraten, wir grenzen uns natürlich mit besonderem Nachdruck von den Bayern ab, aber nie von den Ostfriesen, weil uns ohnehin niemand für Ostfriesen hält. Mit den Bayern jedoch verwechselt man uns schon mal. Dabei reden wir viel schöner. Freud hat ja noch nicht einmal das Internet und die Social Media gekannt.

In den Social Media werden nahezu alle Menschen zu schlechten Karikaturen des Typus, den sie repräsentieren. Die Aufmerksamkeitsökonomie des Netzes belohnt das auch noch, das führt dann zur Verstärkung, wie beim Hund von Herrn Pawlow. Selbstreflexion, vielleicht sogar dieses „In-sich-Hineinhören“, sich selbst infrage zu stellen, das ist sowieso eine Tugend, oder besser, es wäre eine, hätte es nicht den Nachteil, nicht sonderlich verbreitet zu sein. Gerade bei der zunehmenden Gereiztheit in der Pandemie.

Wir haben Meinungen, aber sie sind immer von Emotionen umgeben, und die Gefühle können schon das Kommando über unsere Meinungen übernehmen, zumal dann, wenn alle wegen der verschiedenen Belastungen, denen wir jetzt ausgesetzt sind, emotional vorwiegend mit sich selbst beschäftigt sind und damit vielleicht weniger Raum haben, die Emotionen anderer wahrzunehmen.

Der Satz „Wir werden einander viel verzeihen müssen“, ist zwar von Jens Spahn, aber dennoch einer der klügeren Sätze, die in den letzten Monaten gesagt worden sind.

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Geboren 1966, lebt und arbeitet in Wien. Journalist, Sachbuchautor, Ausstellungskurator, Theatermacher, Universaldilettant. taz-Kolumnist am Wochenende ("Der rote Faden"), als loser Autor der taz schon irgendwie ein Urgestein. Schreibt seit 1992 immer wieder für das Blatt. Buchveröffentlichungen wie "Genial dagegen", "Marx für Eilige" usw. Jüngste Veröffentlichungen: "Liebe in Zeiten des Kapitalismus" (2018) und zuletzt "Herrschaft der Niedertracht" (2019). Österreichischer Staatspreis für Kulturpublizistik 2009, Preis der John Maynard Keynes Gesellschaft für Wirtschaftspublizistik 2019.

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