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Disability & Performance Festival BerlinDie „Cripolution“

Das „No Limits“-Festival setzt auf Neurodivergenz und die Wertschätzung individueller Bedürfnisse. Die Performances finden über Berlin verteilt statt.

Die Stopgap Dance Company wird beim „No Limits“-Festival im Berliner HAU2 ihre Zukunftsvision inklusiven Tanzes vorstellen Foto: Chris Parkes

Revolutionen beginnen oft an den Rändern. Das könnte erneut der Fall sein beim Performancefestival „No Limits“, das vor allem in Berliner Off-Spielstätten stattfindet. Hier sind in diesem Jahr schon allein manche ästhetischen Setzungen sehr stark.

In ihrer furiosen Tanzperformance „ÔSS“ brachte die kapverdische Tänzerin und Choreografin Marlene Monteiro Freitas die sehr eigenen und eigenwilligen Körper der inklusiven Tanzkompanie Dançando com a Diferença in ein strenges Tableau. Erzählt wird vom Leben in einer Einrichtung, sie mag ein Sanatorium, eine geschlossene Station, aber auch ein Laboratorium für Menschenexperimente sein. Zwei Krankenschwestern ziehen in militärischem Drill durch die Anstalt.

Zuweilen wirken Sara Rebolo und Joana Caetano in ihren überexakten Bewegungen bereits wie Verkörperungen von Pflegerobotern. Als Wrestler und DJ steuert Bernardo Graça robuste Wildheit bei. Vor allem aber bringt die unglaubliche Maria Tembe das ganze Arrangement vollends ins Kippen. Erst sitzt sie in weiße Laken gehüllt in einer Waschschüssel, wirkt dort wie eine Statue.

Man fragt sich, wie sie sich so klein machen, wie sie derart ihre Beine verstecken kann. Als sie aus der Schüssel steigt, wird klar: Sie hat nur Beinstümpfe. Auf denen bewegt sie sich ungemein geschickt. Später zieht sie sich eine Polizeiuniform an und strahlt die toxische Autorität faschistisch geschulter Diktatoren aus. „ÔSS“ – auf Kreolisch „Knochen“ – ist eine in ihren Bewegungen ungeheuer disziplinierte, in ihren Bildern aber enorm assoziative Tanzperformance, die die Grenzen von Körperlichkeiten und Moralvorstellungen immer wieder sprengt.

Intimitäten und Sex für Menschen mit Behinderungen

In eine ebenfalls revolutionäre Spur begab sich die installative Performance „Schule der Liebenden“ des Theaters Hora, einer Pionier-Compagnie des inklusiven Theaters. Die Per­for­me­r*in­nen klären im lockeren Arrangement einer Lunger- und Kuschelecke über Zärtlichkeiten, Intimitäten und Sex auf – und sie fordern das auch für sich, für Menschen mit Behinderungen. Sie kleiden und schminken sich als schrille Liebesberater*innen, erkunden ihre Körper und lassen den Funken der Zärtlichkeiten sogar auf das Publikum überspringen.

Zu einer regelrechten Zustimmungsorgie – vor allem aus weiblich gelesenen Mündern – erwächst sich schließlich Fabienne Villigers bemerkenswerte Nein-Performance. Mal sanfter, mal energischer wehrt sie erfolgreich Avancen ihrer männlichen Kollegen ab. #MeToo-Gefahrenabwehr, in Szene gesetzt durch Menschen mit Behinderungen und auch für jene gedacht, die sich als nicht-eingeschränkt definieren.

Das Festival

Das „No Limits“-Festival findet noch bis 24. November statt. Mehr Informationen unter: https://www.no-limits-festival.de/

Diese Tendenz fand eine konzeptuelle Zuspitzung im begleitenden Symposium „Cripping Leadership“. „Crip“ – deutsch „Krüppel“ ist hier als Ermächtigung und Selbstzuschreibung von Personen gemeint, die sich als chronisch krank, behindert oder neurodivers identifizieren, diese Lebensrealität als politisch relevant begreifen und sich für eine Kultur von Gleichberechtigung und fairen Zugangsmöglichkeiten einsetzen.

Claire Cunningham, Choreografin und frisch berufene Einstein-Professorin für „Choreography, Dance and Disability Arts“ am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz (HZT), und ihre Mitarbeiterin Angela Alves zeigten im Symposium auf, welch andere Formen und Praktiken sie als „Crips“ in Kunst, Lehre und Forschung einbringen könnten.

Aufeinanderwarten und Rücksichtnahme

Sie verwiesen auf andere Vorstellungen von Zeitmanagement. „Große Teile unseres Lebens bestehen aus Warten. Warten auf den Rollstuhl im Flughafen, warten auf das Taxi, warten darauf, dass alle Teil­neh­me­r*in­nen eines Workshops von der Toilette zurückkommen“, meinte Cunningham.

Auch in ihrer Performance „Songs of the Wayfarer“ spielt Warten eine zentrale Rolle. Cuningham begab sich darin als Wanderin in die Berge. Sie bewegte sich dabei auf Krücken fort, stark orientiert am Vierfüßlergang. Sie erkletterte auf diese Art auch die Publikumsränge im HAU2, legte dabei aber immer wieder Pausen ein und betonte die Notwendigkeit eines guten Erschöpfungsmanagements.

In einer patriarchalen, rassistischen und neoliberalen Welt eigene Räume kreieren

Aus den Erfahrungen des Auf-die-eigenen-Kräfte-Hörens und Rücksichtnehmens auf andere entwickelte Alves das Szenario einer widerständigen Crip-Praxis. Crips verfügten, so Alves, über große Erfahrungen, sich durch eine patriarchal, rassistisch und neoliberal geformte Welt zu bewegen und dennoch ihre eigenen Räume zu kreieren.

Sie und Cunningham beobachteten auch, dass in gemischten Workshops von Menschen mit wie ohne Einschränkungen Letztere ganz erstaunt den Gewinn auch für sie bemerkten, der im Aufeinanderwarten und in der Rücksichtnahme bestünde.

Neurodiversität im akademischen Alltag

Daraus lasse sich ein Widerstand gegen allgemein herrschende Effizienzregimes und Ausgrenzungspraktiken herstellen. Beide Frauen reden nicht nur, sie tun auch, was sie sagen. Alves etwa bietet im Netzwerk Neurodiversität der UdK Berlin Workshops für neurodivergente Personen für die bessere Bewältigung des akademischen Alltag in Sachen Zeitmanagement und Arbeitsabläufe an.

Cunningham sieht die Berufung als Professorin nicht in erster Linie als persönlichen Karriereerfolg an, sondern kreierte vielmehr ein Team, das Lehre und Forschung gemeinsam gestaltet – aus der Erfahrung heraus, dass Crips auf Hilfe angewiesen sind, aber auch, dass Hilfe die Helfenden wie die, denen geholfen wird, empowern kann. Ziel sei es, so Alves, „safe spaces“ für Nervensysteme aller Art zu schaffen.

Mit solchen Ambitionen erreicht das „No Limits“-Festival eine neue Stufe. Künstlerische Höhepunkte versprechen die Tanzperformance „Harmonia“ der ungarischen Choreografin Adrienn Hód (am 18. und 19. November im HAU2), Oskar Spatz’ Solostück „Besser den Spatz in der Hand“ (21. und 22. November im RambaZamba Theater) und „Lived Fiction“, die Zukunftsvision inklusiven Tanzes der Stopgap Dance Company (22. und 23. November im HAU2) zu werden. Zudem wird es am 22. November ein Netzwerktreffen im Ballhaus Ost geben, bei dem sich über Grundsätzliches und Praktisches verständigt wird.

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