Buch über Zürcher Inklusionstheater HORA: Geduld ist Trumpf
Das Ensemble HORA ist seit mehr als dreißig Jahren aktiv. Nun widmet sich das Buch „Je langsamer, desto schneller“ dem Zürcher Inklusionstheater.
„Mein Freund das Theater“ steht auf Seite 61 in Großschrift. Verhalten tanzen die handgeschriebenen Buchstaben auf dem Papier. Um sie herum schweben menschliche Wesen mit eigenartigen Plateauschuhen. Dieses Bild ist eine Liebeserklärung an die Gemeinschaft von Menschen, die zusammen das Theater HORA bilden. Hat man schon einige Inszenierungen des inklusiven Zürcher Theaterensembles gesehen, ploppen sofort Erinnerungen auf an beglückende Momente.
Ein extrem berührender Moment war die Inszenierung „Disabled Theatre“ aus dem Jahr 2012. Jérôme Bels Regieprinzip gab den Darstellenden Struktur und Freiheit. Das führte zu einer auf Bühnen selten erreichten Unmittelbarkeit in der (Selbst-)Darstellung und schuf darin entspannte Inseln der Selbstreflexion. „Das kranke Haus“, zehn Jahre später vom Kollektiv vorschlag:hammer in Szene gesetzt, lebte von Situationskomik und gab den Schauspielenden gleichzeitig Raum, ihre individuelle Abhängigkeit vom Gesundheitssystem zu thematisieren.
Über dreißig Jahre existiert das Theater HORA nun schon, seit 1993. Da wird es Zeit für ein Resümee. Die Schublade „Postdramatisches Theater“ hat noch Platz für das inklusive Schweizer Theater. Und so widmet sich der neunte Band der Publikationsreihe „Postdramatisches Theater in Porträts“ dem Theater HORA. Stephan Stock, seit 2020 einer der künstlerischen Leiter in Zürich, und der Kulturjournalist Georg Kasch haben ein 150-seitiges Kompendium konzipiert mit einem genialen HORA-Satz als Titel: „Je langsamer, desto schneller“.
Was das Buch so sinnlich macht, sind die vom HORA-Ensemble in Handarbeit verfassten Seiten
Zum Glück machen die Info-Texte den kleinsten Teil des Büchleins aus. Die sind guter Standard. Was dieses Werk so sinnlich macht, sind die vom HORA-Ensemble in Handarbeit verfassten Seiten. Aus ihnen spricht der HORA-Geist. Spricht in einer wunderbaren Direktheit das an, was die Horas ausmacht. Und gleichzeitig schälen sich die Ensemble-Mitglieder in ihrer Individualität heraus. Sie werden sichtbar, weil es ihr spezieller Fokus ist, mit dem sie auf ihren Kosmos blicken. Und es ist ihre eigene Handschrift, mit der sie sich ausdrücken.
Improvisationskunst als Identitätsmerkmal
Das Buch beginnt mit einem Manifest. Ein Gemeinschaftswerk in 15 Sentenzen, die durch ihren Humanismus berühren. Wie „Jeder Mensch hat seine eigene Zeit“ und „Geduld ist Trumpf“. HORA-Mitglied Matthias Brückner sagt: „ Ich habe ein Talent, das die Normalen nicht haben: ‚HORA-Schauspielkunst‘. Down-Syndrom bedeutet: Wir haben spezielle Fähigkeiten. Darum sind wir ins Theater HORA gekommen.“ Sein Kollege Stefan Stuber ergänzt: „Wir schreiben auch über verschiedene Themen. Wir machen eben auch noch selber Regie.“
So etablierte sich im Jahr 2013 die „Freie Republik HORA“, die innerhalb des HORA-Kosmos sechs Jahre lang einen Raum schuf, der den Ensemble-Mitgliedern radikal eigenständiges Arbeiten ermöglichte. Stephan Stock weiß: „Ein Ort, an dem Leute mit kognitiven Beeinträchtigungen gut arbeiten können, ist ein Ort, an dem auch alle anderen besser arbeiten können.“
Im Interview geht es schwerpunktmäßig um die Vereinbarkeit von konventionellen Produktionsabläufen (etwa an den Münchner Kammerspielen, wo HORA-Schauspieler*innen regelmäßig auftreten) mit den besonderen Bedürfnissen der Horas. Stock sieht Beeinträchtigung der Mitwirkenden als Hilfe und Chance, um generell mit Produktionsdruck entspannter umzugehen. Auch für sich: „Ich muss ständig für alles offen bleiben. Ich kann die Situation nicht restlos kontrollieren.“
In der Mitte des Buches versammeln sich 33 fröhliche Leute auf dem HORA-Gruppenfoto. Sieht man sich die doppelseitigen Fotostrecken zu den Inszenierungen an, trauert man um jede, die man nicht gesehen hat, so viel Kunst und Leben quillt aus den Momentaufnahmen. „Die Lust am Scheitern“ wird immer noch aufgeführt. Die Inszenierung, die von der Improvisationskunst der Beteiligten lebt, ist seit 24 Jahren im Repertoire.
„Aber Zeit ist Leben. Und das Leben wohnt im Herzen“ nannte sich die allererste HORA-Inszenierung im Jahr 1993. Dass der Titel bis heute Programm ist im Zürcher HORA-Kosmos, hat man verstanden, wenn man durch die 150 Buchseiten lustwandelt. „Inwiefern ist das HORA ein utopischer Ort?“, fragt Interviewer Marcel Bugiel am Ende des Buches. Stephan Stock muss nicht lange überlegen: „Im HORA habe ich wirklich das Gefühl, dass jede:r willkommen ist.“ Anders, ein wenig poetischer ausgedrückt heißt das: „Mein Freund das Theater.“