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Die letzte „poetical correctness“Über das schöne Schreiben

Wenn die Zustände oft so hässlich sein müssen, soll wenigstens in der Sprache Schönheit liegen. Diese Kolumne war ein Raum dafür, fürs Fragen und Denken.

Seenotrettung ist eine Form der Aufmerksamkeit für die Welt Foto: Imago/Antonin Burat/Le Pictorium

M ein liebstes Notizbuch ist salbeigrün. Es wird von einer einzigen Tackernadel zusammengehalten und die Seiten sind mit Fotos bedruckt, sodass man durch eine Collage aus Steinen, Bächen, Wolken und welken Sonnenblumen blättert. Der Weißraum drumherum ist einladend nebensächlich. Deshalb war er für mich ein guter Platz für angerissene Gedanken und Sätze, die sich selbst nicht erklären wollen, aber die ich unbedingt außerhalb von mir festhalten musste. Genau in die Mitte des Notizbuchs, wo die Tackernadel in das Foto eines wild bewachsenen Schutthügels greift, habe ich poetical correctness geschrieben, irgendwann 2019.

Die Kolumne, die daraus entstand, war eine Befreiung für mich. Kein vorgegebenes Thema, kein enger Rahmen. poetical correctness, das sind nur zwei Wörter, und doch haben sie mir plötzlich für alles Raum gegeben. Dafür, Fragen zu folgen, Gedanken wachsen zu lassen, eine Lupe über das Beiläufige zu halten. Ich konnte nach einer anderen Art von Herkunft suchen, nach der Herkunft meines Denkens, losgelöst von Geburtsort, Pass, Körper. Ich konnte realistisch sein und dann wieder eine Träumerin.

Trotzdem habe ich mich oft schwergetan. Schreiben, besonders gegenwartspolitisch, ist selten Magie. Meistens ist es Handwerk und ein Job, der auch mal müde macht. Weil man sich zu wiederholen beginnt, von sich selbst gelangweilt ist, weil nicht jede Ambivalenz auf 90 Zeilen passt. Weil es schwer ist, anderes zu tun, als auf Hass zu reagieren.

Wenn die Zustände oft so hässlich sein müssen, dachte ich irgendwann, dann will ich wenigstens Schönheit in die Sätze legen, mit denen ich sie beschreibe. Nicht als Weichzeichner, Ablenkung oder Ignoranz vor dem Gewicht der Zustände, sondern als Aufmerksamkeit gegenüber der Welt, besonders dort, wo sie zu oft fehlt: an den angeblichen Rändern, unter den Teppichen, zwischen den Zeilen.

Moral ist keine Bedrohung

Es stimmt, dass das auch ein moralisches Anliegen ist. Es bleibt mir ein Rätsel, warum sich so viele allein durch das Wort Moral bedroht fühlen. Ich denke oft daran, wie Mely Kiyak in „Frausein“ dem Zusammenhang zwischen Ethik und Schönheit nachspürt. Wie sie von den alten Griechen erzählt, die einen Begriff für die Verbindung von Schönheit und Gutheit erfanden: kalokagathia. Wie sie schreibt, „die Gabe, Schönheit zu erkennen […], ist nicht die Folge eines gelungenen Lebens, sondern ihre Voraussetzung“.

Orte für schönes Schreiben sind für mich Geschenke. Auch dieser hier. Aber zum Glück braucht Aufmerksamkeit für die Welt keine Kolumne. Sie findet statt, ganz praktisch und konkret. Sie ist private Seenotrettung und Widerstand gegen die Normalisierung der AfD. Sie ist gute Recherche, die Enttarnung von Worthülsen, der Kampf gegen Gewöhnung. Sie ist Hilfeleistung, Zugewandtheit, Pflege. Und für mich ist sie immer auch Poesie.

Bleiben Sie also aufmerksam. Und danke, es war wirklich schön hier.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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10 Kommentare

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  • "Weil es schwer ist, anderes zu tun, als auf Hass zu reagieren."

    Dass find ich krass, sich immer nur in Hass-Blasen zu bewegen ist nicht nur unerquicklich, es ist auch im Regelfall ach fruchtlos und ermüdend. Und es kann abfärben.



    Da gibt es fruchtbarere Themen.

  • Ideen von Schönheit feiern Urständeschriftlosen Kulturen durch Überlieferung in Form und Getalt ausdem eigenen Hirn ausgelagert ich immer wied er neu ergäweitert, redizierten Erinnerung zu gegenwärtigemSinnen und Trachten beim Verfassen von Gedanken in wörtlicher Rede in der Gegenwart zum Geleit als Kompass, Koordinatensystem zu fungieren, es um das gegenseitig sich und die Natur, alles was da kreucht und feucht Betrachten, Schauen geht nach dem Muster der Gleichzeitigkeit von Entwicklung- Gedankenssprüngen an jedem Ort der Erde, ohne zu werten, denn jede einmal ersonnen Entwicklung, Jeder Gedanke, der die das einmal in die Welt der Menschennatur geboren ist, wird niemals wieder entschwinden zumal weil diese wie auch immer geraten die Wahrnehmung der Option wahren in allem und jedem Poesie der Schönheit in Gesten, Gestalt, Posen, Haltungen zu erfahren. Was wiederum im Auge des Betrachters liegt, das Weile braucht, über Spiegelneuronen empfindsam im Gegenüber gespiegelt in sich selber Schönheit zu erfahren als Augenblick auf die Welt, in ihr eine Spanne Lebens einer Generation zu verweilen.



    Siehe da aber das Schöne nicht nur Erlebnis des Augenblicks Schauen Sehens ist sondern zunächst einmal des Hörens, aus Sprache in Silben, Worten gesprochen Poesie zu schöpfen, Klang Schönheit in Harmonien zu Gehör zu bringen

    Am Anfang eines jeden Leben s nach der geburt setzt Poesie der Sinne ein, stummes Staunen mit offenem Mund über vorgefundene, entdeckte, sich immer wieder neu und ganz anders auffaltende Wirklichkeiten, ohne sie zu werten, darin Metamorphose zu erleben, jede Gestalt jedes Gesicht ähnelt einander, doch keines gleichet der anderen, so kündet der Sinnes Chor von einem inspirierend geheimen Naturgesetz, Sprache, Reime, Silben, Schrift Worte der Gegenwart zu stiften hernach im Glanze gelungener Poesie im Akt universaler Schöpfung erhöhten Selbstwertfühlens im Erleben selber Poesie zu sein, ganz unbescheiden so als ob von den Göttern Musen ewig geküsst zu sein

  • 9G
    95820 (Profil gelöscht)

    Danke für die Kolumne.



    Gewähren Sie weiterhin der Poesie ihre



    Gunst.



    denn „Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.“ (Friedrich Schiller)

  • Nein! Jede Kolumne, aber bitte nicht die von Lin Hierse einstellen. Das schmerzt. Diese besonderen Sichtweisen und die Sprache, ihre Botschaften werden mir sehr fehlen. Wirklich traurig! Alles Gute an die Autorin und danke für Ihre Beiträge.

  • NAAAAAAAAAAIIIIIIIN D:

    Wird es wenigstens einen Best-of-Sammelband geben? Ich hoffe doch sehr!

  • Novalis beschrieb das absolut Poetische als das absolut Szientifische. Das Korrekte, das Zutreffende, die Wirklichkeit selbst, ist also immer poetisch. Dicht an dicht drängen dabei die Wirklichkeitsmassen auf Erzählung. Um die wirklichen Zustände beim schönen Erzählen nicht zu verkitschen, gilt es, wie du beschreibst, die Geschenke der Schönheit in den vermeintlichen Massen wahrzunehmen und von ihrem Kampf, ihrem Streiten für das Gute zu berichten.

    Schönheit in Sätze zu legen bedeutet also, die eigene Wahrnehmung zu sensibilisieren, um aufmerksam für das nicht nur jenseitige Schöne und Gute im Grausamen zu werden, und es so für andere zu verdichten, dass sie sich selbst daran im Sinne des gemeinsamen Glücks schulen können.

    Doch zum Erkennen der Schönheit gehört unwiderruflich die Anerkennung ihres Schreckens. Denn in unserer Gesellschaft ist sie zwangsläufig erkauft durch das Leid, das Ausbeutung, Enteignung und Vernichtung verursacht. Dies ist auch ein Erbe der alten Griechen.

    Nicht allein die geschminkte Schönheit, die Manipulierte, ist insofern Signum des Schreckens. Auch die authentische Schönheit, die Gebrochene, das vermeintlich unperfekte Perfekte bzw. perfekt Unperfekte kann in unserer Zet nur sein, weil andere dafür enteignet, ausgebeutet und/oder vernichtet werden. Weil die vermeintlich Hässlichen, das Proletarische in der Geschichte beherrscht werden und wird.

    Schönes Schreiben, das Theorie betreibt, indem es von der Schönheit im Hässlichen berichtet, wird also dann erst wirklich praktisch (und Kritisch), wenn es darauf drängt, diese Zustände zu überwinden, und es in dem Zuge die Kategorien des Schönen und Guten radikal und epochal neu er-findet.

    Dein mich sehr bewegendes Schreiben hat einen beeindruckend entproletarisierenden Charakter, in der Form, wie du darin gärtnerisch die Zeit verdichtest. Ich hoffe, dass es auch in Zukunft ein Kritisch-praktisches Maßverhältnis offenbart und das Bürgerliche in deiner Poetik nicht zu sehr die Oberhand gewinnt.

  • Vielen Dank für die Kolumne!

    Sie verstehen es wirklich, Schönheit in ihre Sätze zu legen.

    Und auch schwere oder harte Themen, mit einer gewissen Leichtigkeit und niemals unter die Gürtellinie zielend, zu bearbeiten.

    Poetical Correctness eben.

  • Eine herrlich schöne Kolumne, die vielen für mich unkonkreten Emotionen und ungreifbaren Gedanken Worte verliehen hat. Dankeschön dafür!

  • Vielen herzlichen Dank für die Kolumne.

    Hätte ich wohl früher schon schreiben sollen.

    Für mich war die Kolumne immer auch Inspiration.