Die Zukunft der Netzbewegung: Was tun! Aber was?
Snowdenleaks könnte für Internetaktivisten sein, was Tschernobyl für die Atomkraftgegner war. Doch das Ziel ist zu abstrakt – und die Feinde auch.
Ausgerechnet an dem Tag Anfang Juni, als die Snowden-Enthüllungen veröffentlich werden, ist Constanze Kurz unterwegs. Erst spät kommt sie nach Hause, sie klappt den Rechner auf, ein Freund auf Twitter hat ihr ein Video empfohlen.
Auf dem Bildschirm sieht Deutschlands bekannteste Netzaktivistin einen jungen Mann, blass, mit Brille, der oft schlucken muss, weil sein Mund so trocken ist. „Mein Name ist Ed Snowden, ich bin 29 Jahre alt.“ Zwölf Minuten und vierunddreißig Sekunden lang erklärt dieser unscheinbare Typ, was ihn zum Whistleblower macht. Warum er nicht länger schweigen will. „Ich möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die solche Dinge tut“, sagt er.
Überwachung. Weltweit. Und permanent. Solche Dinge.
Das Video wird die größte Überwachungs- und Spionageaffäre ins Rollen bringen. Constanze Kurz ahnt das. „Doch wie viele, die das Video gesehen haben, habe ich in erster Linie an die Person gedacht. Die Informationen waren mir nicht so furchtbar neu, die Größenordnung schon. Ich habe über die Person nachgedacht. Was der gedacht haben muss. Der sah ja aus wie 25. Das war schon ein wenig Gänsehaut, weil er das sehr persönlich rübergebracht hat. Und dann habe ich mir relativ lange die ersten Reaktionen angeschaut, weil mich interessiert hat, wie das im deutschsprachigen Raum aufgenommen wird.“
Snowden hat den weltweit größten Datenskandal enthüllt. Der blasse Mann mit Brille war ein Mitarbeiter des riesigen US-Geheimdienstes National Security Agency (NSA). Jetzt ist er der, der der Welt von den Überwachungs- und Spionagepraktiken seines Arbeitgebers erzählt. Weltweit hat die NSA – und, wie Snowden wenig später enthüllt, auch der britische Geheimdienst – die Kommunikation übers Internet überwacht und ausgespäht. Das Internet: bis dahin ein Hort der Freiheit, jetzt eine Hölle der Überwachung. Müsste das nicht für Netzaktivisten der Auslöser dafür sein, für ihre Sache zu kämpfen? Für das freie Netz?
Die größte Chance ihres noch jungen Lebens
An einem klebrig-heißen Tag im August sitzt Linnea Riensberg in einem Berliner Imbiss, der „Der Imbiss“ heißt, auf der Kastanienallee, dort, wo schöne Menschen mit ungewöhnlichen Sonnenbrillen rumlaufen. „Eigentlich müsste man eine extreme Forderung haben“, sagt Linnea Riensberg. Es klingt nicht sehr entschlossen. Eher wie eine vorsichtige Frage. Der Praktikant, der neben ihr sitzt, sagt: „Wie kann man das Problem so aufbereiten, dass ein Diskurs entsteht?“
Diese Geschichte ist in der taz.am wochenende erschienen. Die taz.am wochenende gibt es am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Diesmal: Billionen winzigster Wesen in und auf uns bestimmen, wer wir sind. Aber wie genau? Die Titelgeschichte „Du bist nicht allein“ lesen Sie in der taz.am wochenende vom 7./8. September 2013 .
Wahrscheinlich ist das gerade die wichtigste Frage der deutschen Netzbewegung im Angesicht der größten Chance ihres noch jungen Lebens.
Seit Edward Snowden im Juni zur Gewissheit gemacht hat, was viele Aktivisten schon ahnten, die für ein freies Internet kämpfen, seit alle paar Tage eine neue Enthüllung über Geheimdienstprogramme namens Prism oder Xkeyscore auftaucht, seit die Frage ist, ob man Totalüberwachung irgendwie noch weiter steigern kann, müssen Leute wie Linnea Riensberg und ihr Praktikant irgendetwas aus dieser Situation machen.
Aber wie?
Riensberg ist 29 Jahre alt und die erste festangestellte Mitarbeiterin der Digitalen Gesellschaft in Berlin, einer Lobbyorganisation für die Freiheit des Netzes.
Von einem Zimmer voller Bürotische und Demotransparente in einer Wohnung im Prenzlauer Berg aus steuert sie die Aktionen. Sie organisiert Proteste, stimmt in Mailinglisten Positionen ab, sie wirbt um neue Fördermitglieder – allein hundert kamen in den vergangenen Wochen dazu –, sie schickt ihnen T-Shirts der Digitalen Gesellschaft, schreibt Newsletter, versucht die Koalition für das freie Netz, für die Grundrechte breiter zu machen, schreibt an die Kirchen, ob sie nicht auch den öffentlichen Brief gegen Überwachung unterzeichnen wollen. Der Praktikant hilft. Gerade machen sie Mittagspause.
„Ein Thema, über das man plötzlich diskutieren kann“
Die Netzbewegung ist im Augenblick die interessanteste Bewegung dieses Landes, ihr Thema dominiert seit Monaten die Nachrichten und Leitartikel. Selbst internetferne Menschen wie Linnea Riensbergs Vater sagen, dass jetzt eigentlich alle Menschen in diesem Land Anzeige erstatten müssten. „Das ist ein Thema, über das man plötzlich diskutieren kann“, sagt sie.
Die Enthüllungen Edward Snowdens sind ein historisches Ereignis wie es die Explosion des Atomkraftwerks in Tschernobyl vor fast dreißig Jahren war. Tschernobyl hat die Anti-Akw-Bewegung wachsen lassen, bis sie so groß war, dass eine konservative Kanzlerin – nach einem weiteren historischen Ereignis namens Fukushima – den Atomausstieg beschloss.
Was passiert mit der Netzbewegung nach Snowdens Enthüllungen?
Man kann das Problem auf mindestens zwei Arten darstellen. Die US-Regierung und die deutsche Bundesregierung verletzen gerade im großen Stil Grundrechte. Der Kanzlerin scheint das Recht auf informationelle Selbstbestimmung, das das Bundesverfassungsgericht einmal festgeschrieben hat, nicht wichtig genug, um sich ausführlicher damit zu beschäftigen, dass ihre und andere Geheimdienste es offenbar recht grundlegend ignorieren.
Die andere Darstellung wäre: Jeder muss sich noch mehr Gedanken darüber machen, wie er seine Daten verwendet, was er im Netz so tut, welche Bilder er auf Facebook postet, ob er Mails verschlüsselt oder unverschlüsselt verschickt.
Das eine Problem hieße Grundrechtsverletzung. Das andere Datenschutz – beides nicht unbedingt Wörter, die besonders viele Menschen dazu bringen „Yeah!“ zu schreien oder „No!“.
Wer ist eigentlich verantwortlich?
Wenn man sich auf eines von beiden geeinigt hätte, müsste man immer noch beschließen, wen genau man jetzt dafür verantwortlich macht, dass es diese Probleme gibt.
Die Kanzlerin? Obama? Die NSA? Die USA? Die EU?
Das Problem mit diesen Problemen ist, dass sie abstrakt sind und dass sie mit Politikern zu tun haben, die im Allgemeinen und trotz allem doch immer noch als irgendwie sympathisch gelten.
Müssten die Digitale Gesellschaft und all ihre Verbündeten jetzt nicht Angela Merkel zur neuen „Zensursula“ machen – so wie die damalige Familienministerin Ursula von der Leyen, als sie 2009 Webseiten mit kinderpornografischen Inhalten sperren lassen wollte? Zu einer Figur, die nicht nur das Internet gefährdet, sondern die freiheitlich-demokratische Grundordnung? Zu einer Überwachungskanzlerin, deren Bild man auf jeder Digitaldemo massenweise im Fernsehen sieht? Damit endlich was passiert. Irgendwas.
„Auf wen schießen wir?“, fragt Linnea Riensberg: „Ist es Merkel?“
Lobbyisten für die Freiheit des Internets
Es gibt zwei Felder, die die Digitale Gesellschaft beharkt. Riensberg und die etwa vierzig Richter, Journalisten, Professoren, Studenten und Nerds, die die Organisation ausmachen, denken sich Kampagnen aus. Und sie versuchen, wie klassische Lobbyisten dafür zu sorgen, dass die Freiheit des Internets gewahrt bleibt, wenn in Brüssel oder Berlin neue Gesetze oder Verordnungen entwickelt werden.
Zusammen mit anderen hat die Digitale Gesellschaft etwa die Acta-Gesetze verhindert, mit denen diverse Staaten den Kampf gegen Produktpiraterie und Urheberrechtsverletzungen aufnehmen wollten. Auch da ging es um die Freiheit des Internets – und europaweit gingen hunderttausende junge Menschen auf die Straße, bis das Gesetz im EU-Parlament scheiterte.
Mitglieder der Digitalen Gesellschaft sprechen aber auch mit Beamten im Bundesinnenministerium, die Deutschland in Brüssel vertreten, wenn es darum geht, wie die erste europäische Datenschutzgrundverordnung aussieht, die die deutsche ablösen wird. Riensberg kennt sich mit vielem aus, was in Brüssel läuft. Sie hat dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin für einen italienischen Abgeordneten gearbeitet, bevor sie Ende vergangenen Jahres zur Digitalen Gesellschaft kam.
Sie weiß, dass die Einladungen zu Gesprächen im Innenministerium ausbleiben könnten, wenn sie Merkel zu aggressiv und pauschal attackiert. Will man das riskieren?
„Wir wollen als politischer Ansprechpartner anerkannt werden“, sagt Riensberg.
Geheimdienste abschaffen?
Die Mitglieder der Digitalen Gesellschaft diskutieren gerade viel in Mailinglisten. Sie überlegen, welche Positionen sie vertreten sollten. Geheimdienste abschaffen? Oder nur reformieren?
Sie kennen das Potenzial. Die Youtube-Jugend ging massenweise gegen Acta auf die Straße, weil sie Angst hatte, dass man ihr kino.to nehmen will und die freien Filme im Netz. Wenn jetzt noch die Generation von Linnea Riensbergs Vater dazu käme, könnte diese Bewegung doch niemand mehr stoppen. Oder?
Samstag, 27. Juli, der Heinrichplatz in Berlin. Ein paar hundert Menschen warten, bis die Demo losgeht, da zieht einer schon ein Fazit. Der Mann ist etwas älter, das Haar weiß, der Vollbart auch. Er sagt zu seinem Nachbarn: „Wir müssen mal eine richtige Revolution organisieren.“
Parteifahnen sind zu sehen, Piraten, Grüne, Linke. Einer hat sein „Zensursula“-T-Shirt noch mal rausgeholt. Ein anderer trägt nur eine Unterhose und eine Guy-Fawkes-Maske. Die Hitze. „Stripped off my civil rights“ steht mit Filzstift auf seiner Brust.
Klare Botschaften, auch auf vielen Plakaten. „Tod den Datenkraken“, „Schwitzen gegen Prism“ oder ein schlichtes Porträt von Edward Snowden mit einem Daumen nach oben: „Like“.
Wer hingegen den Rednern zuhört, muss sich schwer konzentrieren, um mitzubekommen, um was es überhaupt geht.
Es wird über die „Verbindung von Krieg, sozialer Ausgrenzung und Überwachung“ gesprochen. Es geht gegen die USA, die Verdächtige ohne Prozess jahrelang festhalten und gegen die Bundesregierung, die nur das macht, was die USA will. Gegen böse Interessengruppen, gegen die Medien. Für Gustl Mollath und die Solidarität mit Lateinamerika. Für den Kommunismus.
Keine Parolen, keine Gesänge
Die Überwachung ist nur der Anlass zum Protest, der alle möglichen Leute zusammenbringt.
Die Demonstranten laufen ruhig durch die Straßen Richtung Brandenburger Tor. Keine Parolen, keine Gesänge. Nur als sie nach gut zwei Stunden an der US-Botschaft vorbeikommen, rufen sie: „Fuck you, NSA!“
Linnea Riensberg kommt sich jetzt in manchen Momenten ein wenig paranoid vor. Wenn sie zu ihrer Mutter über Skype sagt: Da kann ich gerade nicht drüber reden. Oder vielmehr ist es so: Sie hat Angst, dass andere sie für paranoid halten könnten.
Sie hatte viel mit dem Internetaktivisten Jacob Appelbaum zu tun, einem der Menschen, die Kontakt zu Snowden hatten. Er spricht jetzt häufiger, wenn die Digitale Gesellschaft einlädt. Appelbaum bleibt erst mal in Berlin. Er hat Angst, zurück in die USA zu gehen.
Riensberg hat sich dann irgendwann gefragt, ob sie jetzt noch einfach so in die USA reisen könnte. „Du spinnst“, haben Freunde gesagt. Aber sie ist sich nicht so sicher.
Es haben sich Dinge verschoben, nicht nur für sie.
Aber wie bringt man die Leute dazu, das anzuerkennen und zu reagieren?
„Stop watching us!“
Samstag, 27. Juli, beim Schwammerl am Bahnhof in Regensburg. Wie in Berlin heißt das Motto auch hier: „Stop watching us!“ Jonas Bäuml, zwanzig Jahre alt, trägt kurze Hose, helles Shirt und eine aufgeräumte Brille. Er studiert Biomedical Engineering und läuft hinter der Fahne der Jusos in Richtung Innenstadt.
Warum er hier ist? „Ich könnte es meinen Kindern nicht erklären, wenn ich heute nicht hier wäre“, sagt Bäuml.
Das klingt nach Tschernobyl, nach einem historischen Moment. Das klingt so, wie sich die Digitale Gesellschaft das wünschen dürfte.
Jonas Bäuml hat auch gegen Acta demonstriert. Von Acta redet heute keiner mehr. Was bringt diese Demo jetzt?
„Ehrlich gesagt: nichts“, sagt Jonas Bäuml.
Dann läuft er weiter, am Regensburger Dom vorbei.
Nichts.
Ist das der Grund, warum selbst die, die denken, sie müssten doch eigentlich, es nicht tun? Weil sie das genauso sehen?
Auf den Demos: Viele oder wenige Leute?
Es ist in den Tagen nach dieser und nach anderen Demos viel darüber diskutiert worden, ob nun viele oder wenige Leute da waren. 4.000 in Frankfurt, 2.000 in Berlin, wenige hundert in Regensburg.
Gemessen an den Zielen, die man hier verfolgen könnte? Eines könnte sein: Verhindern, dass die erste Datenschutzverordnung in Brüssel von US-Konzernen mutwillig durchlöchert wird, so dass der Name Schutz etwas Ironisches bekäme. EU-Parlament, -Kommission und Europäischer Rat werden irgendwann wieder anfangen, darum zu ringen. Ein anderes wäre: Irgendein substanzielles Wort der Kanzlerin zu alledem. Oder eben: Geheimdienste weg.
AKWs abschaffen. Darauf konnte man sich gut einigen. Dafür lässt es sich schön kämpfen.
Überwachung stoppen. Was heißt das jetzt genau?
„Der Vergleich mit Tschernobyl funktioniert nicht“, sagt Constanze Kurz. Seit zehn Jahren ist die Informatikerin eine der Sprecherinnen des Chaos Computer Clubs (CCC), einer Vereinigung von Hackern. Onlinedurchsuchung, Vorratsdatenspeicherung, Elena, der elektronische Einkommensnachweis – immer wenn es im vergangenen Jahrzehnt aufzudröseln galt, welche neue Gefahr für die Privatsphäre sich hinter abstrakten Wortschöpfungen verbarg, war Kurz da. „Den Computer-Erklärbär machen“, nennt sie das. Sie versucht es derzeit wieder, auch in Talkshows von Reinhold Beckmann bis Anne Will.
Der Datenskandal ist nicht lebensbedrohlich
Kurz ist sicherlich eines der bekanntesten Gesichter, wenn es um Datenschutz in Deutschland geht. Sie war Gutachterin beim Verfassungsgericht, Parteien berufen sie in Kommissionen, sie schreibt regelmäßig in der FAZ. „Snowden ist nicht vergleichbar mit so einer Bedrohung und so einer Gefahr wie Tschernobyl und Fukushima“, sagt sie. Dem Datenskandal fehle das unmittelbar Lebensbedrohliche eines Atomunfalls.
Während sie Überwachung und Umweltkatastrophe gegeneinander wägt, sitzt die Berlinerin in einem Strandkorb. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin hat Sand hinter ihrer Mensa aufschütten lassen, in der Abendsonne funkelt die Spree. Constanze Kurz forscht hier, wie Technik und Gesellschaft sich miteinander vertragen. Derzeit eher nicht so gut.
Sie denkt noch mal über den Tschernobyl-Vergleich nach. „Wer sich ein wenig mit Drohnen und Datenpolitik beschäftigt, kann natürlich schon merken, dass Daten unmittelbar ein Lebensrisiko darstellen können.“ Schließlich würden in Pakistan und anderen Gebieten Menschen aufgrund von Datenanalysen per Drohne getötet. „Aber diese Gefahr ist nicht real für viele Leute.“
Pakistan ist nicht Deutschland. Nicht Regensburg. Nicht Berlin.
Aber Kurz sieht ähnliche Mechanismen. Beide Bewegungen hätten zuerst komplizierte Technik erlernen und erklären müssen. Es gehe um wirtschaftliche Interessen, Konzerne, die mit Politik und Militär verflochten seien.
Es fehlen Bilder, die Gefühle wecken
„Was uns fehlt sind Robben“, sagt sie, „oder im Öl verendende Vögel.“ Bilder, die Gefühle wecken, Betroffenheit. „Daten kann man nicht fotografieren“, sagt Kurz. Diese Bilderarmut sei ein Problem, dafür habe man allerdings den Vorteil, dass fast jeder Mensch inzwischen mit Computern zu tun habe. Und damit automatisch Betroffener ist.
Nur: „Protest muss sich an jemanden richten.“ Doch einen Adressaten, grober gesagt: einen Feind, sieht Kurz nicht.
Gegen wen sollte man demonstrieren? Obama? Niemand glaube, von hier aus etwas in den USA ändern zu können. „Merkel ist ein denkbar schlechter Gegner, die sagt ja nichts dazu. Dieses Nullsprechen ist ja schon ein Kennzeichen.“ Und Innenminister Hans-Peter Friedrich habe sich dermaßen blamiert, dass er nicht mehr als politischer Gegner wahrgenommen werde, sondern als Witzfigur.
Auf der Demonstration in Berlin war sie trotzdem. „Weil ich mir natürlich wünsche, dass es nicht so lange dauert, bis sich etwas ändert.“
Es kann Jahre dauern. Vielleicht Jahrzehnte
Und dennoch rechnet Constanze Kurz mit einer längeren Revolte von unten. Dass immer mehr Leuten bewusst wird, dass Überwachung ihre Bürgerrechte gefährdet, dass sie selbst etwas tun müssen. Dieser Wandel im Bewusstsein könne Jahre dauern. Bis so viele Menschen den Schutz ihrer Bürgerrechte einfordern, dass auch die großen Parteien auf sie hören müssen.
Die Anti-AKW-Bewegung hat Jahre, Jahrzehnte für ihre Erfolge gebraucht.
Die SPD wollte nach den Snowden-Enthüllungen ein paar Ratschläge von Kurz, was die Partei denn jetzt machen, wie sie sich positionieren könne, auch auf ihrer Webseite. Keine schlechte Publicity in Zeiten, in denen man Aufmerksamkeit für ein Thema generieren will. „Aber ich habe gesagt, das geht nur, wenn ihr es so druckt, wie ich es schreibe.“ Doch nach Rücksprache mit dem CCC wurde daraus nichts. Die Angst, von Parteien vereinnahmt zu werden, ist groß im Hackerverein.
Aber liegt die Bundestagswahl da nicht genau richtig? Für die freie Wahl? „Aber wen sollte man wählen? Eine der beiden großen Parteien wäre immer mit im Boot. Und die SPD ist in Fragen der Sicherheit nicht weniger staatstragend als die CDU“, sagt Kurz. Otto Schily hat die SPD davor gewarnt, Snowden zum Wahlkampfthema zu machen. Der heutige Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier war an zentralen Entscheidungen während der rot-grünen Regierung beteiligt. Die Grünen haben damals ebenfalls für die Vorratsdatenspeicherung gestimmt. „Es gibt keine Garantie, dass sie so etwas nicht wieder tun würden.“
Also ist doch jeder selbst gefordert. Man kann es mit PGP, Tor oder OTR versuchen. Mechanismen, die Nutzern von Notebooks und Smartphones helfen, weniger Spuren im Netz zu hinterlassen, die sich auswerten lassen. Mehr als sechzig Menschen sind an diesem Juliabend ins Erdgeschoss eines Berliner Hausprojekts gekommen, um zu lernen, wie man sich gegen Überwachung wehren kann. „In Zeiten, in denen die NSA sowieso die Metadaten abgreift, ist es umso wichtiger, Inhalte zu verschlüsseln“, sagt Malte Dik, einer der Organisatoren des Abends.
Etwas für Nerds oder Paranoide
Noch vor einem halben Jahr sahen solche Treffen ganz anders aus, da kamen gerade mal ein gutes Dutzend Interessierte. Festplatten verschlüsseln, PGP-Keys anlegen, sich mit Add-ons für den Browser mehr Privatsphäre verschaffen? Das war etwas für Nerds oder für Paranoide.
Gruppenarbeit, verkündet Dik. Am Tisch im hinteren Bereich des Raums geht es um E-Mail-Verschlüsselung, um die Tischtennisplatte herum kümmert man sich um sicheres Surfen.
Mehr Privatsphäre, die Kontrolle über persönliche Informationen wiedergewinnen, sich schützen vor staatlichen Zugriffen. Das sagen die Leute, wenn man fragt, warum sie da sind. Ein ganz kleines bisschen Sand ins Getriebe streuen.
Zwischendurch, als ein Mückenschwarm durchs Fenster fliegt, witzeln einige: Drohnenangriff. Und als eine verschlüsselte E-Mail nicht gleich ankommt, sagt einer: Da beiße sich wohl die NSA gerade die Zähne dran aus.
Ein junger Unidozent verzweifelt trotz Expertenhilfe daran, Enigmail, ein Programm zum Verschlüsseln von E-Mails, auf seinem Windows-Notebook zum Laufen zu bekommen. Vielleicht ist sein altes Betriebssystem zerschossen.
Er glaubt trotzdem an das, was sie hier machen: Cryptopartys, die jeder veranstalten kann, der ein paar Experten zur Hand hat, seien doch der beste Weg, den technischen Schutz der Privatsphäre nicht nur einer IT-Elite zu überlassen.
„Wir haben die Wahl!“
Wieder so ein heißer Augusttag in Berlin, der „Netzpolitische Abend“ der Digitalen Gesellschaft. Die Internetaktivistin Linnea Riensberg steht neben dem Grill im Garten des Hackerbunkers c-base und redet mit einem Pärchen aus San Francisco. Die Spree fließt träge vorbei. Jacob Appelbaum, der neue Star in der Berliner Netzszene, unterhält sich ein paar Tische weiter im weiten Hawaiihemd mit ein paar Leuten, aufgeklappte Rechner an Bierbänken. Appelbaum hat vorher kurz geredet: „Wir haben die Wahl!“ Er klingt wie ein Prediger. Man kriegt den Eindruck, dass etwas möglich ist, wenn man ihm zuhört. Man weiß dann nur immer noch nicht so genau, was.
Linnea Riensberg war einige Tage krank. Sommergrippe. Sie bräuchte jetzt dringend mal Urlaub, sagt sie. In ihrem improvisierten Büro in der Wohnung im Prenzlauer Berg müssten die neuen Mitglieder erfasst werden. Es läuft die Aktion für ein Recht auf Remix, also die Veränderung und Nutzung bereits bestehender Werke. Sie haben tausende Unterschriften gegen Überwachung gesammelt und überlegen, was sie daraus machen. Sie würden gern breiter werden, mehr gesellschaftliche Gruppen einbinden. Aber dafür bräuchte man Leute. „Das ist halt alles noch im Aufbau“, sagt Riensberg.
Jacob Appelbaum kommt vorbei und fragt, ob jemand Moskitospray habe. „No, sorry“, sagt Riensberg. Ein junger Typ mit kurzen Haaren, grünem Shirt und brauner Hose stellt sich dazu. Student, Umweltmanagement. Er sei aus Gießen. Er habe die Schnauze voll, sagt er. Dieser Überwachungsirrsinn. Er wolle jetzt was machen. Deshalb sei er hier in der c-base.
Was könne man denn machen?
Im September, sagt Linnea Riensberg, würden sie wahrscheinlich umziehen, in ihr neues Büro. Da könne er helfen und Kisten schleppen. „Mach ich“, sagt der Student aus Gießen, „voll gern.“ Sie lachen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bundestag bewilligt Rüstungsprojekte
Fürs Militär ist Kohle da
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Kürzungen im Berliner Haushalt
Kultur vor dem Aus
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht räumt Irrtum vor russischem Angriff ein
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren