Die Wahrheit: Mutter im freien Fall
Das Drama älterer Menschen ist, sie bekommen ein ganz neues Verhältnis zur Schwerkraft, vor allem auf der Suche nach Maulwurfshügeln im Garten.
M eine Mutter ist ein gefallenes Mädchen. Das sagt sie, um einen Witz über ihren letzten Sturz zu machen. Meine ostwestfälische Mutter macht über alles Witze, vor allem über die Widrigkeiten, die ihr widerfahren. Dann ist das Leid besser auszuhalten.
Aktuell sieht sie tipptopp, aber sie stürzt. Häufig. Vor einigen Wochen ist sie hingefallen, als sie nachts zur Toilette wollte. Mir sagte sie: „Ich bin erst gar nicht wieder hochgekommen. Ich habe da gelegen wie ein Käfer auf dem Rücken. Wir müssen einen Stock auslegen.“
Ob sie mir sagen könne, wo genau sie denn stolpern wolle und werde. „Ja, einer reicht natürlich nicht“, meinte sie. Ob nicht die Gefahr bestünde, wenn wir zwölf Stöcke auslegen, an verschiedenen Stellen, dass sie darüber nachts stolpert. Dann kam ein Satz, den sie ganz selten zu mir sagt: „Ja, da hast du nun auch wieder recht.“
Das ist das Drama der älteren Menschen. Sie fallen. Es ist eigenartig, aber sie bekommen ein ganz neues Verhältnis zur Schwerkraft. „Frauen sind“, laut NDR, „häufiger betroffen als Männer.“ Unsere Mutter mit ihren fastneunzig treibt die Statistik energisch nach oben. Mein Vater ist auch oft gestrauchelt, konnte aber sehr gut fallen, ich glaube, weil er früher Torwart war.
Vor drei Jahren ist Ilse dramatisch gestürzt, auf einem Parkplatz und hat sich einige Zähne ausgeschlagen. Nun war sie vor einer Woche im Garten gestolpert. Es hatte gefroren. Sie war mit dem Spaten unterwegs, um auf dem eisigen Boden die Maulwurfshügel abzutragen. Die Folge: schwerer Sturz aufs Gesicht, Brille zerkratzt, Bluterguss auf der linken Gesichtshälfte, Platzwunden an der Stirn. Genäht, geröntgt.
Nichts nervt sie mehr als diese Maulwurfshügel. „Ilse, du bist 87! Du kannst doch nicht im Winter in den Garten gehen!“ – „Ich will nicht dauernd auf die Maulwurfshügel schauen müssen! Und dann hat der Maulwurf mir ein Bein gestellt.“ Mit ganzer Überzeugung sagt sie das und grinst spitzbübisch mit blauer Gesichtshälfte.
Nun ein erneuter Sturz, diesmal im Keller. Rückwärts. Sie hatte nach der in der Woche zuvor eingebluteten Bluse geschaut, die sie unten einweichte. Und bei der Gelegenheit gleich eine Flasche Wein für Besuch mit hochgenommen. „Dem Wein ist nichts passiert!“, berichtete Ilse triumphierend.
Zum Glück hat sie den festgehalten. Nicht auszudenken, was durch Scherben hätte passieren können. Aber nun gibt es auch noch eine Platzwunde am Hinterkopf, genäht. Meine Lebensgefährtin fragte: „Ilse, machst du da heimliches Lifting?“ Das fand Ilse witzig und hat es übernommen. Ihr Kopf ist nun umbunden mit einer Art Turban. Seither trägt Ilse eine Pudelmütze in Rosé und sieht echt cool aus.
Gleich fahre ich mit ihr zum Fäden ziehen. Die Ärztin wird fragen: „Was haben Sie denn gemacht?“ Und Ilse wird antworten: „Lifting. Aber der Bluterguss, das ist ein Behandlungsfehler Ihres Kollegen.“
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