Die Wahrheit: Leberwurst und Judenhass
Der deutsche Antisemitismus wird immaterielles Weltkulturerbe. Die Wogen der Empörung schlagen nicht nur hierzulande erwartungsgemäß hoch.
Dieses Jahr muss es klappen, noch nie standen die Zeichen so gut!“, blickt Dr. Hilmar Berghausen gespannt auf die nächste Sitzung der Deutschen Unesco-Kommission. „Wir schaffen das!“, gibt er sich überzeugt.
Berghausen ist Kulturanthropologe an der Technischen Hochschule für Landbau und Düngewirtschaft im thüringischen Sonneberg und Vorsitzender der Initiative „Antisemitismus jetzt!“. Diese hat sich zum Ziel gesetzt, den deutschen Antisemitismus als immaterielles Unesco-Welterbe eintragen zu lassen. Mehr als 88.000 Unterschriften hat die Initiative schon für eine entsprechende Petition an die Kultusministerkonferenz gesammelt.
Wir sind erstaunt: Wer unterschreibt denn da? „Ach, wenn Sie mich so fragen“, lächelt Berghausen hintersinnig: „Eigentlich alle. Antisemitismus eint – über alle Lager hinweg. Antisemitismus verbindet. Da steht der Neonazi mit Baseballschläger neben der woken Veganerin, die sich gestern noch vor einen SUV geklebt hat! Und spätestens seit Beginn des israelischen Angriffskriegs auf Palästina …“
„Moooment mal!“, melden wir umgehend Protest an.
„Jaja, ich weiß“, beschwichtigt Berghausen. „Da gibt es auch abweichende Sichtweisen. Sagen wir es mal ganz neutral und wertfrei: Seit dieser Scheiße da in Gaza haben auch viele Linke intuitiv begriffen, dass ‚Free Palestine from German guilt!‘ nicht ganz ohne Antisemitismus möglich ist. Das hat uns viel Unterstützung beschert.“
Messerscharfer Konsens
Berghausen verweist auf die Petition, die den deutschen Antisemitismus ausdrücklich zur hiesigen Leitkultur zählen möchte – „Deutschland hat am Erbe des Antisemitismus zu tragen.“ Das sei ja allgemeiner Konsens, aber „da steckt das Erbe natürlich schon mit drin!“, schließt der Wissenschaftler messerscharf: „Lassen Sie uns dieses Erbe doch einfach annehmen!“
Erben sei nie einfach. „Ich habe von meiner Familie eine Halbglatze und eine Standuhr geerbt. Beides ist potthässlich. Aber ich habe dieses Erbe angenommen. Weil es zu mir gehört!“ Nicht anders sei es mit dem Antisemitismus. „Ob Sie den nun gut finden oder nicht, ist kulturanthropologisch zweitrangig“, betont Berghausen. „Ich mag weder Oberpfälzer Spitzenklöppeln noch deutschsprachigen Poetry Slam und trotzdem zählt beides in Deutschland zum immateriellen Welterbe.“
Kultur sei das, was in den Köpfen wachse und interpersonell geteilt werde. „Kultur ist eine Leistung eines Kollektivs und ein Anker für dasselbe!“ Und wer wolle abstreiten, dass antisemitische Grundhaltungen seit Jahrtausenden die deutsche Kultur immer wieder maßgeblich beeinflusst hätten?
Dr. Hilmar Berghausen, versierter Kulturanthropologe an der Technischen Hochschule für Landbau und Düngewirtschaft im thüringischen Sonneberg
Berghausen zählt nicht wenig auf: „Ohne den deutschen Antisemitismus wären kulturelle Leistungen wie Martin Luther, Richard Wagner, die Judensau zu Wittenberg, Martin Walser oder Kollegah schlicht undenkbar gewesen!“, und kommt zur nicht überraschenden Schlussfolgerung: „Der Antisemitismus gehört zu Deutschland. Wie der Islam. Wie der Katholizismus. Wie grobe Leberwurst.“
Selbstverständlich bleiben Berghausen und die Seinen nicht ohne Kritik. Der Zentralrat der Juden schäumt vor Wut, auch der Verfassungsschutz in Thüringen hat an ihnen schon mal vorbeigeschaut, doch auch von unerwarteter Seite kommt Widerspruch.
So erklärte die US-amerikanische Philosophin Judith Butler, es sei mal wieder typisch von Deutschland, sich in einem „patriarchalen Akt der aggressiven Kolonialhegemonie nun auch noch den Antisemitismus kulturell aneignen zu wollen“. Dieser jedoch sei universelles Menschenrecht, betonte die Philosophin in einem Gastbeitrag fürs BDS-Mitgliedermagazin Zion To Hell unter der programmatischen Überschrift „Decolonize antisemitism!“.
Still ist es hingegen in der deutschen Kulturpolitik. Bei der Kultusministerkonferenz sei kein entsprechender Welterbe-Antrag eingegangen, heißt es. Man könne da nichts kommentieren. Mit eisernem Schweigen reagierte auch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM). Erst auf beharrliches Nachfragen meldete sich eine Augsburger Mitarbeiterin der Behörde bei uns, die namentlich nicht genannt werden möchte.
Windelweiche Dementis
Bei der BKM arbeite man „seit Längerem daran, den Antisemitismus auch in der Kunst und Hochkultur zuzulassen“, heißt es. Es sei daher kein Zufall, dass die Dementis der BKM bei den Eklats um Documenta und Berlinale stets windelweich ausgefallen und meistens zu spät gekommen seien. Dahinter stecke ein überzeugendes, wenn auch gefährliches Kalkül der Bundesbeauftragten.
Unsere Quelle gegenüber der Wahrheit: „Sagen wir es so – alle bisherigen Strategien, den Antisemitismus durch Überzeugungsarbeit kleinzuhalten, sind gescheitert. Deshalb ist es gut, wenn nun immer mehr linksgrüne bildende Künstler*innen, Filmemacher*innen mit möglichst vielen Sternchen offen antisemitistische Positionen vertreten. Der Antisemitismus muss nur woke genug werden, dann wird sich der Rest Deutschlands schon von ihm abwenden!“ Ein offizielles Statement der BKM gibt es indessen nicht.
Dr. Hilmar Berghausen schaut weiter auf seine Petition, deren Zustimmung minütlich wächst, und hofft auf die deutsche Unesco-Kommission. „In Sachen Antisemitismus war auf die UNO bislang meist Verlass“, gibt er sich optimistisch und denkt perspektivisch. Eine zweite Initiative seines Vereins ist schon in der Pipeline. Die Anerkennung der mittelalterlichen Hexenverfolgung als Weltkulturerbe.
„Welch immens kreative Energie hinter einer solch abwegigen Idee stand!“, frohlockt der Kulturanthropologe. „Das muss man doch würdigen! Und einmal im Jahr irgendwo wenigstens eine kleine Hexe zu verbrennen, das sollte uns die Brauchtumspflege in Deutschland doch wert sein!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Wahlprogramm der FDP
Alles lässt sich ändern – außer der Schuldenbremse
Grüne über das Gezerre um Paragraf 218
„Absolut unüblich und respektlos“
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil