Die Wahrheit: J’accuse!
Für zwei oder drei Sekunden nur erscheint dem Autor kurioserweise nicht sein Leben vor dem inneren Auge, sondern zwei völlig verschiedene Gedanken…
N eulich scheiterte ich bei dem Versuch, an einem milden Abend in Paris einen Boulevard zu überqueren, wie man als Mann von Welt in Paris eben einen Boulevard zu überqueren hat, auch wenn es nur der vergleichsweise schlichte Boulevard de Sébastopol war, auf den ich wehenden Mantels, ein Baguette unter dem Arm, den Kopf in den Wolken, eine Gauloise im Mundwinkel und den Verkehr im Blick meinen Fuß setzte, hoffnungsfroh, weil es anders nicht geht, von keinem Peugeot, Vélosolex oder Vélib oder deren inzwischen auch schon atomstrombetriebenen Cousinen über den Haufen gefahren zu werden, als mein Ausschreiten eine jähe Hemmung erfuhr dergestalt, dass mich ein unerwarteter Schlag gegen die Spitze des rechten Fußes daran hinderte, eben jenen Fuß, wie es ursprünglich meine Absicht war, ohne dass hier ein Beschluss gefasst worden wäre, so läuft man halt einfach, vor den anderen zu setzen, um mein beherztes Queren des Boulevard de Sébastopol zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, was, wie angedeutet, ab diesem Moment nicht mehr möglich war und mich, um ein sofortiges Vornüberkippen zu vermeiden, in ein clownhaftes Stolpern zwang, das eher einem storchigen Rennen glich, weil ich zu diesem Zeitpunkt noch die zarte Hoffnung hegte, einen Sturz insofern vermeiden zu können, als meine flinken Beine den bereits bedenklich nach vorne kippenden Oberkörper gleichsam würden einholen können, ich also für zwei oder drei Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, kurioserweise eben nicht mein bisheriges Leben vor dem inneren Auge an mir vorüberziehen sah, sondern zwei völlig verschiedene Gedanken sich mir aufdrängten, deren erster um französische Straßennamen kreiste, Wagram, Stalingrad, Sébastopol, alles Orte militärischer Erfolge der Grande Nation oder eben Niederlagen ihrer Gegner, und wie souverän sowie nachgerade postkolonial eine Place de Điên Biên Phu doch wäre, wofür es natürlich nicht reicht, und deren zweiter – jetzt bin ich wieder bei den Gedanken – sich beim Vornüberstürzen mit dem Kopf voran, das der Lateiner „praecipitare“ nennt, absurderweise mit einem Fahrradweg in Wiesbaden beschäftigte, der, ein linksgrüner Zeitgeist wollte es so, dort auf eine Weise auf die Straße gepinselt ist, dass an ein Überholen nicht zu denken und der Fahrradfahrer auch nicht vor dem Autoverkehr geschützt ist, handelt es sich bei der Abgrenzung doch nur um eine lächerliche Linie auf dem Asphalt, sie könnte auch nur gedacht sein, ganz anders übrigens, als es im ergrünenden Paris der Fall ist, wo, wie mir im Fallen dämmerte, die Begrenzung zur Fahrbahn der Motorisierten durch eine etwa zwei Zentimeter hohe Schwelle gewährleistet ist, die mir, es ließ sich nun nicht mehr von der Hand weisen, einer Hand übrigens, die ich bereits zur notdürftigen Abfederung meines Sturzes ausgestreckt hatte, zum Verhängnis geworden war und mich zum Opfer der Mobilitätswende machte. J’accuse! Fin.
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