Die Wahrheit: Auf Russenkoks im Heimkino

Mit der ausgezeichneten Schauspielerin Sandra Hüller unterwegs auf dem roten Teppich der ausgefallensten Berlinale aller Zeiten.

Roter Teppich bei der Berlinale

Einmal selbst über die Auslegeware der Berlinale schreiten Foto: Christian Thiel/Imago

Am Donnerstag dieser Woche war in unseren Breiten „Weiberfastnacht“. Meine Frau stand mit einem lustigen Hütchen auf dem Kopf vor ihrem Laptop und tanzte zu kölscher Musik. Mit den gleichen Leuten, mit denen sie im Normalfall durch die Kneipen gezogen wäre, feierte sie Karneval per Zoom-Konferenz. Büroparty im Homeoffice quasi.

Ohne Corona wäre ich jetzt bereits auf der Berlinale. Internationale Filmfestspiele in Berlin. Wenn meine Frau im Arbeitszimmer eine Stimmung wie in Heinsberg zaubern kann, dann kann ich auch im Wohnzimmer echtes Berlinale-Feeling schaffen. Ich könnte eigentlich eine kleine Aki-Kaurismäki-Retrospektive vor dem Fernsehgerät veranstalten. Um es ein bisschen berlinaliger zu machen, würde ich bis zum nächsten Tag nicht lüften und zusätzlich verbrauchte Atemluft aus Luftballons im Raum verteilen.

Vor der Filmvorführung musste ich nur eine längere Zeit auf dem Balkon verbringen und dann leicht durchgefroren von dieser typischen Berliner Kälte mit beschlagener Brille das Foyer, also unseren Flur, betreten. Drinnen dann Mütze und Handschuhe in die Jacke stecken und die Jacke irgendwie im Sessel platt sitzen. Bloß nicht die immer überlaufene Garderobe benutzen, damit ich nach dem Film ohne Zeitverlust wieder ins Freie gelangen konnte. Für die Simulation einer Retrospektive sollte das reichen. Der Freitagabend war gerettet.

Aber ein wichtiger Aspekt der Berlinale fehlte. Das Warten in Menschenmengen vor dem Einlass, die sogenannte Delphi-Experience. Würde es mir gelingen, im Flur ein echtes Gedrängel herzustellen, könnte es meine Frau im Grunde gleich mitbenutzen, um reale Bedingun­gen beim Weg zum Klo oder zum Kölsch-Nachschub zu haben.

Umzugskartons als Publikum

Das einzige in ausreichender Menge zeitnah zur Verfügung stehende Material waren 72 Umzugskartons. Der gemeine Intellektuelle behauptet ja gern von sich, Ecken und Kanten zu haben; passt doch. Ich baute also Leute aus Kartons, malte ihnen Gesichter, gestaltete Filmkritiker mit dicken Brillen und hipsteresk gekleidete Filmstudentinnen und stattete große Nerds mit diesen Rucksäcken aus, die einem in Menschenmengen bei jeder Drehung gern ins Gesicht schlagen. Für ein einfühlsames usbekisches „Coming of Age“-Drama in der Sektion „Panorama des internationalen Films: Tragik in der Tundra“ ein nachgerade archetypisches Publikum. Der Samstagabend war gerettet.

Doch keine Berlinale ohne roten Teppich. Ich musste die Menschenmenge ein bisschen umdrapieren, einen roten Teppich aus Krepppapier in die Mitte legen, und wenn meine Frau dann bereit wäre, sich als Sandra Hüller zu verkleiden, wäre das doch ein irrer Synergieeffekt von Karneval und Berlinale.

Die ausgezeichnete Schauspielerin Sandra Hüller ist gefühlt bei jeder Berlinale seit dem Jahr 1871 dabei, und weil unter der dem europäischen Film zugetanen neuen Festivalleitung keine internationalen Stars aus Hollywood mehr eingeladen werden, muss sie nun ganz allein die Rolle als Liebling der Massen für Paparazzi und Autogrammjäger übernehmen.

Meine Frau erklärte jedoch, „Synergieeffekt“ sei voll das „Neunziger-Wort“. Und ich solle mich nicht so hineinsteigern in meine Simulation. Sie habe am Sonntag auch gar keine Zeit, da müsse sie nachmittags zur alternativen „Stunksitzung“. Dafür habe sie sich extra eine unbequeme Bierbank besorgt, außerdem sei es echt schade, dass ich nicht mir ihr schunkeln wolle. Sie sei jetzt auf die zwei Federbetten mit Pappnasen und Biergeruch angewiesen, die sie rechts und links von sich platziert habe.

Dann spiele ich eben selber Sandra Hüller, beschloss ich leicht beleidigt, roter Teppich, das wollte ich schon immer mal, im Grunde war mein ganzes Leben eine Vorbereitung auf diesen Augenblick! Als Sandra Hüller müsste ich dann selbstverständlich auch auf eine ­originalgetreue Prominentenparty, also fragte ich meinen Gras­dealer nach dem dafür notwendigen Kokain. Leider hatte der Händler keins, weil er nur fair gehandelte Biodrogen führt und „Kokain lieferkettenmäßig voll die Sauerei“ sei. Er empfahl Wodka und eine Scheibe Zitrone, mit einem Gemisch aus Zucker und Kaffee darübergestreut, das sogenannte Russenkoks sollte für mich aufregend genug sein.

Blitzlichtgewitter vorm Filmpalast

Am Sonntagabend war Sandra Hüller sehr aufgeregt. Im Wettbewerb sollte „Exil“ laufen, ein Film von 2020, der günstig im Magenta-Probemonat zu bekommen war, und dieser irre Erfolg von „Toni Erdmann“ setzte sie immer noch unter Druck. So toll war der Film nun auch wieder nicht gewesen, dachte sie und nahm etwas von dem Russenkoks.

Roter Teppich, das war so gar nicht ihr Ding, aber es gehörte nun mal zum Spiel in dieser Branche. Sie nahm noch etwas Russenkoks und schritt würdevoll durchs Blitzlichtgewitter in den prächtigen Zoopalast. Hier saß sie nun leicht angeheitert zwischen Mišel Matičević und ihrem Regisseur Visar Morina und nahm mehr Russenkoks.

Es gongte, das Licht wurde dunkler, der Vorhang ging auf, der Film begann, und um etwas runterzukommen, trank sie ein, zwei Bier und aß einen Haschkeks. Zoopalast, Wettbewerb, womöglich ein Goldener Bär, auf einmal fühlte sich alles so verdammt richtig an. Kurz vor dem zweiten Plotpoint musste sie mal auf die Toilette. Sie stand auf und hielt sich ein bisschen an Mišels starker Schulter fest.

Im Foyer war ganz schön viel los. Ein Typ, der aussah wie Oskar Roehler, starrte sie an. Aus einem Nebenraum erklang Karnevalsmusik. Voll strange. Noch sonderbarer wurde es, als Ruth Bader Ginsburg aus dem Klo kam und sagte: „Hey, komm mit, wir machen Party.“ Ruth und Sandra tanzten zu den Bläck Fööss, und die sonderbaren Gestalten auf dem Bildschirm freuten sich, dass ich nach all den Jahren endlich vernünftig geworden war und mit ihnen im Kostüm feierte.

„Ich bin Sandra Hüller!“, rief ich. „Klar, haben wir doch direkt erkannt!“, sagte ein großer rosa Hase, „ ‚Toni Erdmann‘ war echt super!“ Es wurde noch ein sehr schöner Abend. Die beste Berlinale aller Zeiten. Und im ­nächsten Jahr gehe ich als Goldener Bär.

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