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Die WahrheitDer Wanderer und sein Grat

Kolumne
von Rupprecht Mayer

In der Politik und im Literaturbetrieb sind Gratwanderungen beliebt. Aber kaum jemand kennt sich wirklich aus in dieser geheimnisvollen Bergwelt.

M erkel und Steinmeier versuchen eine Gratwanderung in der Ukraine, meldeten die Nachrichten. In der Politik, in der Hochfinanz, im Literaturbetrieb – überall gibt es Grate, auf denen fleißig gewandert wird. Wenn man den Medien glaubt, dann wird dieser Sport immer populärer. Ich kann da nur warnen. Es handelt sich hier um eine höchst gefährliche Disziplin. Ich wandere selbst fortwährend auf einem sehr schmalen, steinigen Grat. Aber um mich brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, ich bin einer der letzten professionellen Gratwanderer.

Von wo nach wo mein Grat verläuft? Das kann ich Ihnen im Moment gar nicht beantworten. Wissen Sie, dass ich schon so viele Jahre erfolgreich gratwandere, hat damit zu tun, dass ich mich voll und ganz auf den Grat an sich konzentriere, auf diesen wenige Zentimeter breiten Pfad. Ich schaue nicht zu Ihnen hinunter und auch nicht zur Seite. Die meisten Kollegen, die auf schmalen Graten zwischen zwischen Gut und Böse, zwischen Expansion und Pleite, zwischen West und Ost und zwischen Hochmut und Fall gewandert sind, die sind längst abgestürzt. Und todsicher immer auf die Seite von Böse, Pleite, Ost – oder eben Fall. Sagen wir einfach, ich wandere auf einem schmalen Grad zwischen den Extremen. Das akzeptiere ich. Als Extremsportler kann ich mit Extremen umgehen. Aber im Grunde geht es um den Grat selbst, der Weg ist das Ziel.

Wo sonst sollte schon das Ziel liegen? Ein Ziel im Tal würde Abstieg bedeuten, und die Alternative wäre der Gipfel. Wir sind aber keine Gipfelstürmer, wir sind Gratwanderer. So ein Grat muss einen voll und ganz ausfüllen. Was wissen die Leute im Flachland schon von unseren Graten! Das drückt sich auch in ihrer fantasielosen Wortwahl aus. „Er wandert auf einem schmalen Grat“, sagen sie, oder „auf einem sehr schmalen Grat“, oder, wenn es hochkommt, „auf einem scharfen Grat“. Dass es Edelweißgrate gibt, Kalkstein- und Granitgrate, davon haben diese Leute doch noch nie etwas gehört.

Als Gratwanderer muss man eben das Unverstandensein und die Einsamkeit aushalten können. Ich wandere ja grundsätzlich allein. Einer Gruppe von stolpernden, vor Angst schwitzenden Anfängern möchte ich nicht hinterherlaufen. Vorangehen möchte ich aber auch nicht. Hier oben braucht es keinen Dolchstoß – ein Klaps auf die Schulter, ein Puff in die Rippen, und schon haben Sie jemand zu Tal befördert. So werden Sie mich noch lange in luftiger Höhe auf dem Grat wandern sehen. Übrigens, es heißt „wandern“, nicht „wandeln“. „Er wandelt auf einem schmalen Grat zwischen Ernst und Satire“, solche Sprüche können mich aufregen.

Wie lange ich das noch mache? Natürlich fragt man sich, welche Zukunftsperspektiven man als Gratwanderer hat, welche Herausforderungen es noch gibt. Ich würde es mir zum Beispiel reizvoll vorstellen, zwischen zwei Welten zu wandern. Aber wie schwer ist es heute, auch nur eine einzige Welt zu finden, in der es auszuhalten ist! Geschweige denn derer zwei. Dafür bin ich schon zu lange hier oben.

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1 Kommentar

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  • "Wie lange ich das noch mache?" – Ist doch der running gag, Herr Mayer.

    Bis Sie am Scheideweg angekommen sind!