Die Türkei und der Balkan: Erdoğans langer Arm
Ein türkischer Lehrer wird in Bosnien und Herzegowina entführt. Er gehört der Gülen-Bewegung an. Jetzt könnte er in die Türkei abgeschoben werden.
Als aber am vergangenen Dienstag die Aufforderung der lokalen Polizei kam, sich bei der Polizeistation zu melden, ahnte der seit 15 Jahren in Bosnien lebende Lehrer noch nicht, dass er nach Sarajevo-Lukavica transportiert und dort in einer Strafanstalt festgehalten werden würde.
Natürlich wusste Fatih Keskin, dass die türkischen Behörden nicht gut auf ihn zu sprechen waren. Denn er gehört der Gülen-Bewegung an, deren Mitglieder in der Türkei von Präsident Erdoğan als Staatsfeinde, Putschisten und sogar Terroristen angesehen werden. Aber dass er ein Risiko für die „Sicherheit des Staates Bosnien und Herzegowina“ sei, konnte der Lehrer sich nicht vorstellen.
Als Erstes wurde ihm schon in der Polizeistation in Bihac erklärt, seine Aufenthaltsgenehmigung in Bosnien und Herzegowina sei ungültig geworden. Dann wurde er in eine Limousine des Innenministeriums gesetzt und nach Sarajevo transportiert. Er konnte zwar seine Familie kontaktieren und hat die Unterstützung eines Rechtsanwaltes. Aber anscheinend ist es bisher nicht klar, ob sein Fall in der nächsten Woche vor einem Gericht oder von den Sicherheitsbehörden entschieden wird.
Probleme mit dem Aufenthaltsrecht
Bekannte und Freunde sind aufgewühlt. Die türkische Community in Bosnien und Herzegowina ist seit einigen Jahren angewachsen. Allein in Sarajevo leben rund 10.000 Türken. Jetzt fürchten auch andere, dass sie Schwierigkeiten wegen des Aufenthaltsrechts haben werden. Hajrun Tursanović, der Sprecher der Richmond-Schule in Bihać, erklärte, die Ausländerbehörde hätte noch vor kurzer Zeit betont, dass Türken mit Aufenthaltsgenehmigung nichts zu befürchten hätten und vor Forderungen des türkischen Staates in Bosnien und Herzegowina sicher seien.
Das sei jetzt wohl nicht mehr so, erklärten einige Mitglieder der türkischen Gemeinde der taz. Sie wüssten, dass der türkische Staat schon seit Jahren versuche, Einfluss auf die islamische Gemeinschaft in Bosnien auszuüben. Als dies nicht ausreichend gelang, versuchten Erdoğans Leute die muslimische Nationalpartei SDA für ihre Ziele einzuspannen.
Bekannt ist, dass Bakir Izetbegović, langjähriger Vorsitzender der Partei, mit Erdoğan befreundet und auch geschäftlich mit ihm verbunden ist. So wurde er beispielsweise zur Hochzeit der Tochter in die Türkei eingeladen. In Sarajevo gibt es schon lange Gerüchte über Gefälligkeiten Izetbegovics gegenüber Erdogans Gefolgsleuten. Neu ist allerdings, dass nun auch bosnische Behörden in diese Politik mit einbezogen werden.
Ob die Rechnung für Erdogans Rachefeldzug allerdings aufgeht, ist noch unklar. Es gibt auch starke Kräfte in Bosnien, sich nicht so einfach dem Druck von Seiten der türkischen Regierung beugen, so die Sozialdemokraten und die stärkste Partei in Sarajevo, die nicht nationalistische Partei Nasa Stranka.
Klare Position
Zwar gibt es aus westlichen diplomatischen Kreisen Stimmen, die den wachsenden Einfluss der Türkei auf dem gesamten Balkan registrieren, weil es gelingt, dort gerade bei den nationalistischen Parteien aller Seiten Unterstützung zu erhalten.
Unabhängige Beobachter und die Zivilgesellschaft hoffen auf Gegendruck von den EU-Ländern. Vor allem von Deutschland erhoffen sich die Freunde des entführten Lehrers eine klare Position. Sie warnen davor, Erdoğan könnte auch in Deutschland in Bezug auf unliebsame Bürger seines Landes Druck ausüben. „Der schreckt doch nicht einmal vor Entführungen zurück“, erklärte ein Kritiker, der seinen Namen nicht nennen möchte, in Sarajevo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind