Die SPD streitet über die Groko: Strategie oder Verzweiflung?
Unerhörtes scheint möglich: Ein Nein der Delegierten beim SPD-Parteitag am Sonntag wäre ein Erdbeben für die Partei.
Mit wenigen Sätzen beerdigt die Fraktionsvorsitzende eine Debatte, die Spitzengenossen seit Tagen führen. SPD-Vize Ralf Stegner hat am Wochenende das Verbot der sachgrundlosen Befristung zur Bedingung für eine neue Große Koalition gemacht. Malu Dreyer, Ministerpräsidentin in Rheinland-Pfalz, kündigte kurz darauf an, man werde auch über die Bürgerversicherung sprechen müssen. Und Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller mahnte Verbesserungen des 28-seitigen Sondierungsergebnisses bei Wohnen, Zuwanderung und Integration an.
Stegner klang knallhart, die anderen wirkten etwas weicher. Aber der Eindruck bleibt: Die einen in der SPD-Spitze überbieten sich darin, saftige Nachschläge zu fordern – während SPD-Chef Martin Schulz nach der Sondierungsnacht „hervorragende Ergebnisse“ bejubelte. Ist das noch Strategie oder schon Verzweiflung?
Die Stimmung in der SPD-Spitze schwankt zwischen Zuversicht und Depression. Mehrere Landesverbände haben sich bereits gegen die GroKo ausgesprochen. Thüringen, Sachsen-Anhalt, zuletzt Müllers Hauptstadt-SPD in Berlin. Es sind kleine Verbände, die nur wenige Delegierte zu dem entscheidenden Parteitag in Bonn schicken. Aber es geht nicht nur um Mathematik. Solche Warnsignale illustrieren die verbreitete Skepsis an der SPD-Basis.
Kippt die Stimmung?
Plötzlich scheint etwas Unerhörtes möglich: Kippt die Stimmung? Stellt sich der SPD-Parteitag am Sonntag, der über die Aufnahme von Koalitionsverhandlungen entscheiden wird, gegen die eigene Führung?
Ein Nein der 600 Delegierten wäre ein Erdbeben, nach dem in der Partei kein Stein mehr auf dem anderen bliebe. Schulz wäre wohl den Parteivorsitz los. Aber auch die übrige SPD-Spitze stünde unter immensem Rechtfertigungsdruck. Schließlich hat sich das prominent besetzte Sondierungsteam bei einer Enthaltung hinter das Sondierungsergebnis gestellt – und eine übergroße Mehrheit im Parteivorstand.
Führende GenossInnen funken Alarmsignale nach Berlin. „Etwa ein Drittel bei uns sagt: Keine GroKo, egal welche Inhalte“, beschreibt Leni Breymaier, Landeschefin in Baden-Württemberg, die Stimmung. „Ein anderer Teil sagt: Macht! Die Mehrheit macht ihre Zustimmung von Inhalten abhängig.“
Nordrhein-Westfalens Landeschef Michael Groschek sieht die Lage ähnlich. „Wir haben Mitglieder, die sagen Ja, und welche, die sagen Nein, und dazwischen ist ein großer Teil von nachdenklichen Unentschlossenen“, so Groschek in dem Radiosender WDR2. Er rechne mit weiteren Diskussionen über die Sondierungsergebnisse.Das bedeutet: Alles ist offen.
Schulz führt nicht
Schon dies ist eine Nachricht in der staatstragenden SPD. Ob bei der Großen Koalition 2013, bei der Entscheidung über die umstrittene Vorratsdatenspeicherung oder über das Freihandelsabkommen Ceta: Bisher konnte sich die SPD-Spitze darauf verlassen, dass die brave Basis Umstrittenes am Ende durchwinkt. Schulz aber führt in dieser komplexen Situation nicht. Stattdessen wirkt er immer mehr wie ein Getriebener. Neulich forderte er die GroKo-Befürworter auf, sich in der innerparteilichen Debatte laut zu Wort zu melden. Ein Chef, der um Hilfe ruft – das spricht für sich.
Martin Schulz wirkt genervt, vielleicht auch bedrückt, als er am Montagabend um kurz vor sechs in das Kongresszentrum der Dortmunder Westfalenhalle eilt. In der Halle warten die Delegierten der Regionen Westliches Westfalen und Ostwestfalen-Lippe für den Parteitag. Schulz will hier werben. Für das Ergebnis, für die GroKo und für sich.
Schon seit einer Stunde interviewen JournalistInnen die Delegierten vor Dutzenden aufgebauten Kameras. Was sie zu hören bekommen, ist vor allem Kritik: „Beim ausgehandelten Sondierungspapier vermisse ich die sozialdemokratische Handschrift“, sagt etwa Marcel Franzmann aus Höxter. Die „Spaltung der Gesellschaft in Arm und Reich“ sei in den grundlegenden Gesprächen mit CDU und CSU nicht ausreichend Thema gewesen, findet der 34-Jährige. Beim Parteitag in Bonn werde er deshalb gegen die GroKo stimmen: „Dazu habe ich auch die Unterstützung meiner Basis“, sagt der stellvertretende Kreisvorsitzende.
Es häufen sich die Warnsignale. So entschied sich der NRW-Landesvorstand dafür, lieber nicht über ein Ja oder Nein zur Aufnahme von Koalitionsverhandlungen abzustimmen. Eine formale Abstimmung wie in anderen Verbänden werde es nicht geben, sagte ein Sprecher.
Pure Ratlosigkeit
Dahinter steckt nach taz-Informationen pure Ratlosigkeit. Der Vorstand diskutierte am Samstag stundenlang die heikle Frage – und nur wenige Mitglieder hatten sich entschieden. Der Rest wusste schlicht nicht, ob er dem Parteitag Koalitionsverhandlungen empfehlen sollte. Die Delegierten aus Nordrhein-Westfalen werden also ohne Empfehlung ihres Vorstands nach Bonn reisen.
Die SPD-Spitze ackert derweil weiter. Schulz und Nahles touren diese Woche noch durch die Republik, auch SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil absolviert Termin nach Termin. Immer mit derselben Botschaft im Gepäck: „Es lohnt sich“ – so sagte es Schulz am Dienstag in einem Live-Chat mit Facebook-Nutzern.
Nahles zählt vor der blau-roten Medienwand im Reichstag die drei Erfolge auf, die sie am wichtigsten findet. Beim milliardenteuren Wegfall des Solidarzuschlags habe die SPD durchgesetzt, dass die Richtigen – also Normalverdiener – entlastet würden. Bei der Rente habe die SPD eine Garantie für das Rentenniveau erkämpft, „einen Meilenstein“. Und schließlich werde es in einer neuen GroKo eine Bildungsoffensive geben – samt Wegfall des Kooperationsverbots.
In der SPD-Spitze rechnet man derweil bang die Delegierten durch. Vor allem auf die starken westdeutschen Landesverbände kommt es an. NRW schickt 144 Delegierte, Niedersachsen 81, Bayern 78 und Hessen 71. Aus Rheinland-Pfalz kommen 49, aus Baden-Württemberg 47. Niedersachsens Landesvorstand, das ist wichtig für Schulz, hat sich klar für die GroKo ausgesprochen – dort regiert Ministerpräsident Stephan Weil in einer Großen Koalition. In Bayern und Hessen wiederum stehen im Oktober Landtagswahlen an. Das dämpft traditionell die Lust auf eine Große Koalition noch mehr, weil sie die Differenzen zum Hauptgegner verwischt.
Kaffeesatzleserei
Doch solche Zahlenspiele sind am Ende Kaffeesatzleserei. Die Delegierten halten sich in so einer heiklen Frage nicht unbedingt an die Linie des Landesvorstands. Und die SPD-Spitze bemühte sich gestern, das selbst verursachte Nachverhandlungschaos in den Griff zu bekommen.
Nahles war nicht die Einzige, die die Euphorie bremste. Auch Dreyer sagte, es sei „vollkommen klar, dass Sondierungsergebnisse nicht Ergebnisse sind, die man komplett wieder aufmachen kann.“ Das Ergebnis der Sondierungen sei eine gute Grundlage. Das klang ganz anders als noch vor ein paar Tagen.
Mit Blick auf zweifelnde Delegierte sagte Dreyer weiter: „Ich glaube, dass wir gut tun, dass wir jetzt einfach das Gespräch überall suchen.“ Die in der Partei beliebte Ministerpräsident gilt als wichtig für die Überzeugungsarbeit.
Und was sagt die Union?
In der Union beäugt man die Windungen des möglichen Koalitionspartners derweil beunruhigt oder amüsiert – je nach Interessenlage.
Unions-Fraktionsgeschäftsführer Michael Grosse-Brömer (CDU) sagte, während der Sondierungen hätten sich zwischen Union und SPD Vertrauen und Respekt eingestellt. „Ich hoffe, dass das Vertrauen im Zuge der weiteren Beratungen von der SPD bekräftigt wird und Vereinbarungen eingehalten werden.“ Grosse-Brömer betonte, die Sondierungen seien ja schon halbe Koalitionsverhandlungen gewesen – aber eben nur halbe. Natürlich könnten in Koalitionsverhandlungen auch neue Themen aufgerufen werden. Grosse-Brömer, der zu den Merkel-Unterstützern zählt, funkt also Versöhnliches in Richtung der verstörten SPD.
CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt haben manche SPD-Strategen in Verdacht, eine eigene Agenda zu fahren – zum Schaden einer möglichen Einigung. Dobrindt schloss am Dienstag Nachverhandlungen einmal mehr aus. Es müsse Handschlagqualität gelten. Außerdem bewies er hintergründigen Humor, indem er der SPD-Spitze ein vergiftetes Angebot machte: „Zur Not würde ich auf dem SPD-Parteitag reden.“ Vielleicht braucht die SPD Dobrindt gar nicht, um die GroKo zu beerdigen.
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