Die NDW-Band The Wirtschaftswunder: Schwester, was ist Ypsilon?
The Wirtschaftswunder waren eine der besten Bands der Neuen Deutschen Welle. Ihre Lieder berichteten von einem neuen, vielstimmigen Deutschland.
A uf seiner Reise von Frankfurt am Main nach Limburg macht der Journalist Harald InHülsen Zwischenstopp in einem kleinen Ort. In der „Herrenabteilung“ vom Bahnhofsklo entdeckt InHülsen den Spruch: „Se Wirtschaftswunder beste Punk Gruup von Welt.“ In Limburg an der Lahn begibt sich der Journalist mit der dort beheimateten Band The Wirtschaftswunder in die Gaststätte „Schwarzer Herzog“. Die Eisdielen der Stadt, in die man sich hatte setzen wollen, waren entweder zu voll oder zu laut.
Warum fährt ein Journalist vom Musik Express im Frühjahr 1982 in die Provinz? Warum will er sich mit The Wirtschaftswunder in einer Eisdiele treffen? Antwort eins: The Wirtschaftswunder sind vielleicht nicht „beste Punk Gruup von Welt“, aber eine der besten und beliebtesten Bands, die zu jener Zeit unter der Genrebezeichnung Neue Deutsche Welle auf allen Kanälen zu hören sind.
Als InHülsen die Band besucht, hat The Wirtschaftswunder eben seine zweite, selbstbetitelte LP bei der Plattenfirma Polydor veröffentlicht. Zwei Jahre zuvor, als sich überall in Westdeutschland, in der DDR, in der Schweiz und in Österreich junge Bands gründeten und Musik mit deutschen Texten zu spielen begannen, hatte die Band im Vierspurstudio des Gitarristen Tom Dokoupil ihr erstes Album mit dem Titel „Salmobray“ aufgenommen. Es erschien bei Alfred Hilsbergs ZickZack-Label in Hamburg. Vor Kurzem wurde es als vergessener Klassiker zusammen mit weiteren frühen Aufnahmen von Tapete Records wiederveröffentlicht.
Warum aber sollte es zum Interview in die Eisdiele gehen? Zum einen gibt es in kleinen und mittelgroßen Städten in der Bundesrepublik Anfang der 1980er nur drei Orte, an denen man sich nachmittags zusammensetzen, reden, rauchen und trinken kann: Restaurants, Kneipen und Eisdielen. Zum anderen heißt eins der Stücke auf dem Debütalbum der Band „Eis“. Darin spielen mehrere Eisdielen eine wesentliche Rolle: „Eissalon Turin, Eissalon Venedig, Eissalon Mailand, Eissalon Rom.“
Die italienischen Gastarbeiter hatten den Deutschen Pasta, Pizza und selbst gemachtes Eis gebracht. Ihre Eiscafés benannten sie nach Städten, die den Deutschen italienisches Flair versprachen. Eiscafés mit Namen Venezia dürfte es viele gegeben haben. Ob aber wirklich welche existierten, die Turin hießen, ist eine andere Frage. Einen besonderen Dreh bekam dieser Text durch die Tatsache, dass Angelo Galizia ihn vortrug. Denn das ist vielleicht das Außergewöhnlichste an dieser Band: Deutsche New-Wave-Bands gab es 1980 viele. Nur eine jedoch, in der ein italienischer Gastarbeiter in starkem Akzent und in teils gebrochenem Deutsch, aber auch auf Italienisch, Französisch und Englisch sang.
„Ich habe immer mit diesem komischem Akzent italienisch-deutsch gesprochen und man kann die Texte nicht richtig verstehen“, sagt Angelo Galizia heute. Deutsch habe er auf den Straßen von Limburg gelernt, sagt Angelo. „Meine Freunde waren Deutsche.“
The Wirtschaftswunder komponieren Popsongs mit mitreißenden Melodien, denen sie – auf Platte und live – experimentelle Stücke voller Dissonanzen und schräger Harmonien folgen lassen. Ihre Texte handeln von Sex: „Sprung und Biss, das macht geil.“ Sie singen über das Tanzen, denn sie tanzen ja selber jeden Abend: „Komm Mädel, tanz mit mir. Hand auf Herz. Ich will in dir – heine, heine rein.“ Sie befassen sich mit Krieg und Militarismus: „Io sono il generale. Ich grüße die Parade. Ich bin stolz auf euch Soldaten. Ich führe euch zum Sieg.“ Sie blicken, es sind ja die frühen Achtziger, verwundert und entfremdet auf die deutsche Ordnung und das medial vermittelte Gesellschaftstheater: „Schein, Schein. Geldschein, Sonnenschein. Parkschein, Totenschein. Jagdschein, Krankenschein. Gutschein, Heiligenschein. Heutzutag is alles nur Schein. Am liebsten wär ich scheintot.“
Diese vier jungen Männer schreiben eingängige Refrains zum Mitsingen, aber verwirren ihre Zuhörer einen Moment später mit dadaistischen Texten, die Ambivalenzen erzeugen, weil man oft nicht so recht sagen kann, was ironisch gemeint ist und was ganz naiv eine Szene beschreibt oder ein Gefühl wiedergibt.
Gleich das erste Stück auf dem Debütalbum „Salmobray“ macht Sprache und Text zum Thema. Es heißt „Analphabet“. Da singt Angelo Galizia: „A–e–i–o–u. Ich bin Analphabet. Ich bin Analphabet. Was soll denn das bedeuten? Ich habe keine Ahnung. Schwester, was ist Ypsilon? Y ist interessant. Oh, ich will alles lernen! Oh, ich will alles lernen!“
Galizia erklärt: „Das Lied ‚Analphabet‘ handelt von mir, weil ich nicht zur Schule gegangen bin. Ich bin ein bisschen analphabetisch – nicht richtig analphabetisch, aber was die Grammatik angeht. So haben wir Texte über uns selbst geschrieben. Das ist ein universeller Text für diejenigen, die nicht studiert haben.“ Angelo Galizia war 1971 dem Vater aus der sizilianischen Stadt Biancavilla nach Limburg gefolgt. „Mein Vater hat mich gefragt, willst du mal nach Deutschland kommen? Ich habe gesagt, ja. Ich war 17, fast 18 Jahre alt“, erzählt Angelo, der schon seit Jahrzehnten wieder in Biancavilla lebt.
Die Situation der Gastarbeiter hat Angelo in „Heimweh“, dem letzten, sehr langsamen und dramatischen Stück von „Salmobray“, auf knappe Weise so charakterisiert: „Ich komm von Süd und such mein Glück. Heimweh, Heimweh. Bei euch in Nord. Oh wie kalt. Bei euch in Nord. Heimweh, Heimweh. Biancavilla I come back.“ Das ist der vollständige Text, damit ist das Wesentliche gesagt.
Angelos Freund und Bandkollege Mark Pfurtscheller sagt: „Angelos Familie gehörte zur ersten Gastarbeitergeneration, die in Limburg in der Altstadt gewohnt haben. Damals waren die Häuser in der Altstadt noch nicht saniert. Sie hatten keine richtigen Toiletten, das waren harte Bedingungen.“
Schon auf ihrer zweiten Single hatten The Wirtschaftswunder einen Ausländer auftreten lassen. Über der Titelmelodie der Fernsehserie „Der Kommissar“ war ein Dialog aus einer Episode zu hören. Die Fragen des Kommissars, gespielt von Erik Ode, sind im Original zu hören, doch die Antworten des Verdächtigen, Dr. Tucher, wurden durch Antworten von Angelo Galizia ersetzt. Wer wollte, konnte aus dieser musikalischen Klamotte schon damals einen Verweis auf Racial Profiling durch deutsche Polizisten herauslesen. Kommissar Keller: „Hat sie immer lange Kleider getragen?“ Angelo Galizia: „Ja, sie war doch eine Hippiemädchen.“ Kommissar Keller: „Hatten Sie einen Streit, gestern Abend?“ Angelo Galizia: „Ja, wir haben uns gestritten wie die Verrückt. Aber ich konnte nichts dafür. Sie ist mir weggelaufen, aber ich habe nicht totgemacht!“
Auf ihrem zweiten Album widmen The Wirtschaftswunder den Türken in Deutschland ein Lied. „Tapetto Magico“, Fliegender Teppich, heißt es. Sein Text besteht aus einer einzigen Zeile: „Io volo con tapetto magico over Germany.“ Mark, der das Stück geschrieben hat – Angelo übersetzte und ergänzte den Text – meint heute: „Der Fliegende Teppich ist ein schönes Bild für die Sogwirkung von Deutschland in einer Zeit höher Arbeitslosigkeit. Das war schon damals klar, es gibt die Festung Europa, und die Mauern werden immer höher. Man kommt nur noch mit dem Fliegenden Teppich hier rein.“
The Wirtschaftswunder selbst bezeichnete sich als „internationale“ Band. Tom Dokoupils Familie ist während des Prager Frühlings 1968 aus der CSSR nach Deutschland geflohen. Mark Pfurtschellers Eltern waren in den 1950ern nach Kanada ausgewandert und zehn Jahre später mit dem in Toronto geborenen Mark nach Deutschland zurückgekehrt. Wo der Junge sich nun wunderte, warum hier Serien neu im Fernsehen liefen, die er alle schon längst gesehen hatte. „Ich habe mich nicht sehr deutsch gefühlt, als ich hier ankam, da war alles anders, das war komisch“, sagt Mark. Nur Jürgen Beuth hat eine ungebrochen deutsche Biografie.
Umso erstaunlicher ist, dass The Wirtschaftswunder, diese prototypische Band eines neuen Deutschlands, dem kulturellen Gedächtnis entschwunden zu sein scheinen. Dabei klingen ihre alten Aufnahmen recht frisch. Noch im Abstand von 40 Jahren transportieren sich die Energie und der Humor dieser Gruppe.
The Wirtschaftswunder: „Salmobray“ und „Preziosen & Profanes“ (Tapete Records).
Auf „Preziosen & Profanes“ sind Stücke der frühen Singles, EPs und einige Beiträge für Kompilationen veröffentlicht. Darunter „Der Kommissar“ und „Metall“.
Auf Youtube ist ein Konzert im Messinghof in Kassel dokumentiert, das The Wirtschaftswunder 1980 gaben. Alle tragen Hemd und Krawatte, Angelo Galizia einen gut sitzenden Anzug, der wenige Jahre zuvor noch modern gewesen sein dürfte. Mark Pfurtscheller betätigt verschiedene Synthesizer, manchmal geht ihm dabei Tom Dokoupil zur Hand, der ansonsten wie ein Berserker mit seiner Gitarre herumtobt.
Als The Wirtschaftswunder das Stück „Metall“ spielen, das von Galizias Zeit in einer Metallfabrik inspiriert war, malträtiert Dokoupil eine Metallsäule mit einer Flex und lässt die Funken ins Publikum fliegen, das vornehmlich aus jungen Freaks besteht, die hin- und hergerissen zu sein scheinen, wie sie das nun alles finden sollen. Angelo Galizia tanzt und singt dazu: „Ich liebe Metall, es ist so hart, so hart wie Stahl, so hart wie ich.“ Währenddessen Jürgen Beuth stoisch, präzise und funky sein Schlagzeug spielt und dann doch lächeln muss.
Angelo arbeitet als Achtzehnjähriger zuerst in der Limburger Blechwarenfabrik, die heute noch existiert. „Dann hab ich dort keinen Bock mehr gehabt, hab mich kündigen lassen und bin in eine andere Fabrik gegangen. Aber abends wollte ich immer in die Disco gehen. Damals hat mir Soul gefallen. Ich habe viele schwarze Leute aus der US Army kennengelernt, die aus Wiesbaden gekommen sind. Wir tanzten zu James Brown und den Temptations.“
In der Disko Zoom lernt er Mark kennen. Das Zoom war „eine New-Wave-Punk-Disco, zu der alle Punks von Kassel, Frankfurt, Wiesbaden, Koblenz kamen – zufällig in unserer Stadt, aus der wir kamen“, erzählt Mark. Gemeint ist das Städtchen Diez, das direkt neben Limburg liegt. Bald darauf kommt Angelo zu einer Bandprobe und ist fortan der neue Sänger von The Wirtschaftswunder: „Ich wollte schon immer auf der Bühne stehen. Ich wollte singen, was Neues herausbringen.“
Neu ist der Sound von The Wirtschaftswunder. „Ich glaube, das Wichtigste ist, dass wir so etwas wie eine ‚deutsche Musik‘ versuchen“, sagte Mark Pfurtscheller damals dazu. Tom Dokoupil sah das auch so. Er behauptete rundheraus, The Wirtschaftswunder spielten „deutsche Volksmusik“. Er attestierte seiner Band aber zugleich „eine bestimmte Mentalität. Dass du dir noch einen Abstand bewahrst in Deutschland.“ Ja, es ist ein merkwürdiges Land, über das The Wirtschaftswunder in ihren Liedern singen: „Die Sonne scheint. Die Leute sind alle wach. Die gehen schon alle einkaufen. Ich weiß nicht warum, aber: Die Leute sind interessant! Wir sind die besten Leute, oh Leute, was in Welt es gibt. Wir sind wie der Sonnenschein.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken