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Die Hauptstadt begreifenHallo, ich bin Berlin, darf ich mich vorstellen?

Berlin: Jeden Tag versucht sich unser Kolumnist, diese Stadt zu erklären. Jetzt hört er ihr einfach zu.

Wenn man lange genug in einen Abgrund blickt, stellt er sich einem vor Foto: Soeren Stache/dpa

H i, ich bin Berlin. Hier ist meine ungefragt geteilte Meinung, mein edgy Tattoo, meine lumpige Kleidung aus verklärten Jahrzehnten, die niemand wirklich zurück will.

Hier ist mein hungriger Körper. Jede Nacht saugen mir die Menschen das Blut aus. Jeden Morgen spucken sie es zurück auf die Straße und wundern sich, dass niemand drauf ausrutscht, als gäbe es noch Tatsachen, an die alle glauben.

Ich bin Berlin. Morgens frühstücke ich die sozialen Extreme in der U-Bahn und vergewissere mich der eigenen Klasse. Ich spähe aus den zerkratzten Fenstern und schaue den Körpern und den sie umgebenden Verhältnissen beim Zerfall zu. Mensch, sind die unglücklich. Oder wütend. Oder lethargisch. Liegt es am Wetter, der Kälte der Herzen, der Hitze der Gemüter?

Ich bin Berlin. Hier leben, zwischen all den Deutschen, Leute aus 190 Ländern, die nicht integriert werden müssen, sie müssen die Deutschen integrieren. Seid gütig mit ihnen, ihr könnt sie streicheln, diese kaputten Gestalten, zugerichtet von Angst, Weltkriegen, farblosem Essen und roten Ampeln.

Ich bin Gefängnis meiner Träume, Traum aller Gefangenen. Aber hey, schaut euch meine übertriebene Gelassenheit an, wenn Menschen mit prekärem Duldungsstatus verprügelt werden von der schön frisierten Polizei. Nehmt euch ein Beispiel an der Solidarität mit der Instandhaltung der Verhältnisse.

Ich bin die Hauptstadt der Liebe auf Zeit

In meinen Cafés, die aussehen wie Apple-Stores, sitzen mit Dutts getarnte Alpha-Males, stylische Queere, toxische Girl-Bosse neben armen Verirrten, die kein Englisch können und von privilegierten Baristas mit bösem Blick gestraft werden.

Hier haben Menschen weirde Hobbies. Sie reiten auf Holzpferden, machen Lachyoga oder kopieren das entfernte Unglück in die eigene Nahwelt, um ungestört Betroffenheit zu inszenieren, während sie dem Obdachlosen vor der Haustür den Euro verweigern. „Compassion Fatigue“, nennt es ein nach mir benanntes Magazin, das Leute lesen, die denken, sie seien schlau, während die wirklich Schlauen weder lesen noch denken.

Ich bin Berlin. Auf meinen Partys ­cornern mich Leute, die mir Polyamorie wie ein Geschäftsmodell erläutern – effizient und nachhaltig; oder sie referieren vom neuesten an meinen Unis verfassten Sachbuch. Darin fantasieren sie in fahlen Hauptsätzen vermeintliche Gegenwartsphänomene zu Theorien herbei. 


In meinen Clubs verliere ich mich im Sound zusammen mit schönen Unbekannten, werfe Gunfinger in die Luft, während Hihats um Köpfe wirbeln wie Wespen um ein Glas Limonade. Jemand hat ein Foto davon gemacht und es nach Süden geschickt. 

Dorthin wollen immer alle. Doch im Sommer ist es hier auch schön. In der Hängematte zwischen den Nadelbäumen am See, bestaune ich die Villen am Ufer und frage mich, warum da nie ein Mensch zu sehen ist. Ach ja, Reichtum wird hier ja versteckt und in Immobilien geparkt.

Hi, ich bin die Hauptstadt der Liebe auf Zeit. In meinen Hinterhöfen feiern Ratten Partys mit all den gescheiterten Tinder-Dates. Auch ich werde ständig gematcht. Doch dann merken sie: ich bin nicht wie auf den Fotos und verschwinden. Irgendwann vermissen sie mich – und kommen zurück. Ich schwöre.

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Philipp Rhensius ist Autor, Soziologe, Journalist, Musiker und Editor von Norient. Seine Arbeiten sind angetrieben von der Idee, dass das Fühlen der Ketten der erste Schritt zur Emanzipation ist. Seit Herbst 2024 schreibt er die taz-Kolumne "Was macht mich" - mal poetisch, mal politisch, mal wtf!?
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