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Die Härte des GesetzesSequenzen des Grauens

Gestern hat die Berufungsverhandlung des Polizisten Marcel B. begonnen – er hatte im 2013 einen Brasilianer brutal verprügelt und wurde 2015 verurteilt

Der Tatort bei Tage: Neben der Marienkirche jagte Marcel B. im Gebüsch nachts Einbrecher Foto: Nikolai Wolff (Fotoetage)

BREMEN taz| Vor dem Bremer Landgericht hat gestern die Berufungsverhandlung gegen den Polizisten Marcel B. begonnen. Er war bereits vor zwei Jahren wegen Körperverletzung im Amt zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt worden, weil er wiederum zwei Jahre zuvor einen Brasilianer brutal verprügelt hatte (taz berichtete). Gegen das Urteil des Bremer Amtsgerichts hatten sowohl Marcel B. als auch die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt – der Polizist, weil er lieber freigesprochen worden wäre und seinen Job behalten will, und die Staatsanwaltschaft, weil ihr das Strafmaß zu gering war.

Bei der jetzigen Berufungsverhandlung geht nun alles wieder von vorn los: Täter und Opfer müssen den Tathergang nochmals in aller Ausführlichkeit schildern, Sachverständige werden gehört und rund 20 Zeugen sind geladen, mehrere Verhandlungstage angesetzt. Für das Opfer V. de O., der auch als Nebenkläger auftritt und seit der Tat aufgrund vielfacher psychischer Traumata massiv in seiner Lebensqualität eingeschränkt ist, beginnt der ganze Alptraum also noch einmal von vorn.

Mehrfach bricht er bei der Befragung durch die Richterin in Tränen aus, muss zwischendurch einen Schluck Wasser trinken, braucht ein Taschentuch. Immer wieder fragt er: „Warum? Warum? Das hat mein Leben beendet, ich bin ein Mann, der Angst hat.“ Bei der Befragung von Marcel B., in der der Polizist seine Version des Geschehens erzählt, darf er den Saal verlassen.

Vom Tathergang in den frühen Morgenstunden des 21. Mai 2013 gibt es nach wie vor zwei völlig unterschiedliche Versionen: Während Marcel B. aussagt, V. de O. habe sich einer Polizeikontrolle entziehen wollen, sei vor ihm weggelaufen und habe sich schließlich gewehrt, wodurch der Polizist sich selbst massiv bedroht gefühlt hätte, schildert V. de O. den Vorgang als brutalen Angriff aus heiterem Himmel. Marcel B., der seit Ende 2015 vom Dienst suspendiert ist, wird zuerst befragt. Er spricht in bürokratisch-korrekter Polizei-Diktion und ordnet das Geschehen für sich in „Sequenzen“ ein: Als würde er ein Youtube-Video beschreiben, antwortet er auf Nachfragen der Richterin zum Tathergang, etwa ob V. de O. zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas gerufen habe, so: „Also in der Sequenz nicht.“

Insgesamt fünf Verhandlungstage sind für den Berufungsprozess angesetzt, der Zeitplan aber kann schon am ersten Tag nicht eingehalten werden: Eine für 12 Uhr bestellte Zeugin wird gebeten um 14 Uhr wiederzukommen, aber auch dann kommt sie vergebens: Die Befragung von V. de O. ist immer noch nicht abgeschlossen. Das liegt zum einen an der eher defensiven Verhandlungsführung von Richterin Wilkens, aber auch an der Sprachbarriere, die präzise Antworten oftmals verhindert: Das Opfer ist Brasilianer und spricht nur schlecht Deutsch. So muss ein Dolmetscher die Fragen und Antworten übersetzen, Reibungsverluste sind dabei kaum zu vermeiden, präzisierende Nachfragen immer wieder nötig.

Kernpunkt der unterschiedlichen Tathergangsversionen ist die Frage, ob der Zivilfahnder Marcel B. für V. de O. als Polizist erkennbar war oder nicht. B. sagt aus, er habe sich sofort als Polizeibeamter zu erkennen gegeben und sogar seinen Dienstausweis gezeigt, V. de O. sei dann aber sofort geflüchtet. Als er und seine hinzugekommenen KollegInnen den inzwischen schwer Verletzten schließlich überwältigt und fixiert hatten, habe der Brasilianer angegeben, in seiner Heimat würde die Polizei sofort schießen und er habe deswegen versucht zu fliehen.

V de O. hingegen sagt aus, er habe B. für einen „Verrückten oder Betrunkenen“ gehalten und während der Prügelattacke laut um Hilfe gerufen – und zwar nach der Polizei. Als Marcel B.s Verteidiger Temba Hoch von ihm wissen will, ob er auf Deutsch oder auf Portugiesisch um Hilfe gerufen habe, sagt V. de O.: „Ich habe auf Deutsch gerufen: ‚Polizei, hilf mir!‘“ – denn das sei das Erste, was Ausländer in Deutschland lernten, wenn sie hier ankommen: dass die Polizei einem hier hilft.

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3 Kommentare

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  • Immer diese Sprachbarrieren! Nein, es nicht "Erste, was Ausländer in Deutschland LERNEN, wenn sie hier ankommen: dass die Polizei einem hier hilft".

     

    Es mag das erste, was sie GESAGT kriegen. Lernen müssen sie aber leider nur all zu oft etwas ganz anderes. Lernen müssen sie (und zwar aus eigener, schmerzhafter Erfahrung): Weder "die Polizei" ist sonderlich hilfsbereit in Deutschland, noch sonst ein "Offizieller". Angefangen bei den Mitarbeitern der Ausländerbehörde über Vermieter und Ärzte bis hin zu Kundenbetreuern großen Telefonanbieter behandeln viele Deutsche Ausländer (zumal solche mit dunkler Haut und/oder schwarzen Haaren und/oder schmalen Augen) wie dumme Kinder, die autoritär erzogen werden müssen und denen man schroff und von oben herab begegnen darf.

     

    Viele "Normalbürger" tun das im Übrigen auch. Und manchmal muss man sogar als Ur-Deutsche derartige Erfahrungen teilen. Womöglich sind wir Deutschen überhaupt nicht all zu menschenfreundlich. So lange nicht, wie wir nicht sagen können: "Dieser Fremde ist mein Freund", behandeln wir jeden anderen eher wie einen (potentiellen) Feind. Und machmal tun wir das sogar mit unseren Freunden bzw. mit uns selbst..

    • @mowgli:

      Ich hab da ein deutliches Bild vor Augen: Im Moment des Erkennens, dass das Gegenüber Deutsch nicht fließend spricht, spannt sich der Körper an und signalisiert Angriff, der Blick wird hart und unfreundlich, die Stimme doppelt so laut, die Sprache einfach und autoritär.

      Ich würde das allerdings nicht so verallgemeinern. Nach meiner Erfahrung treten v. a. Leute so auf, die mit ihren Kindern und Untergebenen meist genauso reden und eigentlich überhaupt mit allen, die sie in einer niedrigeren sozialen Position wähnen oder sonstwie als schwächer wahrnehmen. Ich glaube aber, dass dieser autoritäre Typus in Deutschland im Großen und Ganzen doch eher ein Auslaufmodell ist.

      • @Ruhig Blut:

        Machen Sie sich keine Gedanken, die wachsen nach.