Die Gesellschaft in der Coronakrise: Wirologie statt Virologie
Würde man ein Virus nach dem Sinn des Lebens fragen, würde es antworten: ich. Die Antwort auf eine erkrankte Gesellschaft kann nur sein: wir.
Treffen sich zwei Planeten. Fragt der eine: Und, wie geht’s so? Sagt der andere: Ach, nicht so gut, ich hab Mensch! Der eine dazu: Du, nicht so schlimm, hatte ich auch schon, das geht vorüber!“ Die Verbindung dieses Witzes mit der Coronapandemie ist ebenso naheliegend wie ernüchternd: Haben oder sind wir die Krankheit? Und wie tödlich wird ihr Ausgang sein?
Aktuell präzisiert sich diese Frage bei manchen eher auf dies: Reagieren PolitikerInnen übertrieben vorsichtig auf diese Krise? Wie viele der Schutzmaßnahmen sind oder waren tatsächlich sinnvoll und notwendig und wie lange noch werden sie es bleiben?
„Ich will, dass ihr in Panik geratet!“ Greta Thunbergs Appell vom vergangenen Herbst hat sich in der Anfangszeit der Corona-Epidemie eingelöst, zumindest teilweise. Aktuell streitet Deutschland, ob die Vorgaben der Politik sinnvoll, notwendig und angemessen waren oder unzulässige Versuche staatlicher Kontrolle und Übergriffigkeit darstellen. Was jedoch weiterhin verblüfft, ist die Kluft zwischen dem beherzten Durchgreifen der Politik in der Coronakrise und den im Vergleich dazu völlig inadäquaten Schutzmaßnahmen vor den Folgen des Klimawandels.
Vera Kattermann arbeitet als Psychotherapeutin und Autorin in Berlin. Als Buch liegt vor: „Kollektive Vergangenheitsbearbeitung in Südafrika. Ein psychoanalytischer Verständnisversuch der Wahrheits- und Versöhnungskommission“. Gießen, 2007.
Offenbar ist die klimabedingte Todesbedrohung für die meisten weiterhin zu abstrakt und langfristig. Die Pandemie mutet nun aber wie die Kulmination apokalyptischer Szenarien an: Die letzten Sommer und nun auch schon dieses Frühjahr sind gezeichnet von drastischen Dürrephasen – Landstriche versteppen, Wälder veröden gezeichnet von Hitze, Feuer und Borkenkäfer. Auch im Amazonas und in Australien haben Brände bislang unvorstellbaren Ausmaßes gewütet. Zeitgleich brechen Gletscher und ewiges Eis weg. Das Sterben von Insekten und Bienen ist ebenso erschreckend wie die biblisch wirkenden Heuschreckenplagen in Ostafrika. Die biblische Apokalypse scheint der Realität nur wenig nachzustehen.
Wie können wir uns schützen?
Quer durch alle Zeiten und Jahrhunderte mussten Menschen und Gesellschaften einen Umgang mit lebensbedrohlichen Seuchen finden. Und quer durch alle Zeiten und Jahrhunderte geht und ging es dabei immer wieder um die Kernfragen: Wo kommt das her, was genau ist es? Wieso trifft es uns? Was können wir tun, um uns zu schützen?
Früher wurde Krankheit als Fluch der Götter aufgefasst, manchmal als Heimsuchung böser Geister, Dämonen oder Hexen, manchmal auch als ein Fluch missgünstiger Anderer. Die menschliche Auseinandersetzung mit dem Krankheitsschicksal als qualvolle Frage nach dem „Warum geschieht dies mir oder uns?“ erhielt in diesen Deutungsmustern überschaubare Antworten, die Handlungsempfehlungen schon in sich trugen: Dämonen, Geister, Hexen und Götter wahlweise besänftigen oder vertreiben, Rückkehr zu gottesfürchtigem Wohlverhalten und zu reichlichen Opfergaben. Die Pestsäulen in vielen Innenstädten Zentraleuropas erzählen bis heute davon.
Diagnose und Ursachenklärung sind im Laufe der Jahrhunderte nüchterner geworden und beschränken sich heute auf die von den Naturwissenschaften zu Verfügung gestellten Geschichten. Wir hören von aggressiven Viren, die uns auf Tröpfchen reisend erobern und niederringen – Luftgeister? Piraten? Das hat auch etwas Märchenhaftes. Dabei sind wir mit dem Bild des Viralen ganz real vertraut und fühlen uns in der Welt einer immunologischen Metaphorik längst zu Hause: In der digitalen Ansteckung geht jeder von uns täglich mit Virenbedrohungen um. Nicht nur, dass Verschwörungstheorien „viral“ gehen.
Anti-Viren-Programme erinnern bei jedem Einschalten von Computer oder Laptop an die Gefahr eines plötzlichen Komplett-Absturzes. Die jahrelange Auseinandersetzung mit digitalen Viren hat vertraute Bedrohungsszenarien geschaffen, die sich nun im Körperlichen zu bestätigen und zu reproduzieren scheinen: „Firewall“-Maßnahmen gegen eine Viruspandemie waren nicht so unvertraut, wie es heute, nach ersten Eindämmungsmaßnahmen, vielleicht scheinen will. Auch die Feuer in Australien vor wenigen Monaten – inzwischen schon wieder weitgehend in Vergessenheit geraten – sollten übrigens mittels Gegenfeuerschneisen eingedämmt werden.
Sind Viren Lebewesen?
Sich auf die Logik und Metaphorik der Viren tiefer einzulassen, birgt spannende Parallelen und könnte auch den Hang zu Verschwörungserzählungen erklären. Denn die Wissenschaft streitet weiterhin darüber, ob Viren als Lebewesen anzusehen sind oder nicht: merkwürdige Zwitterwesen zwischen lebendiger und toter Materie, gleich Scheintoten aus einem Fantasy-Roman. Diese scheintoten oder scheinlebendigen Viren sind radikal parasitär: sich selbst nicht vermehren könnend, da sie keinen eigenen Stoffwechsel besitzen, übernehmen sie die Steuerung des Stoffwechsels einer Wirtszelle. Und dann nur noch ein Programm: Vermehrung! Wachstum!
Würde man ein Virus nach dem Sinn des Lebens fragen, würde es wohl antworten: ich. Das auf grenzenloses Wachstum angelegte Prinzip ist Ausdruck seines hochmanipulativen Egoismus. Das Virus braucht kein Gegenüber mehr, das einverstanden wäre, sich mit ihm zusammen zu vermehren. Das Virus braucht keine Beziehung. Es benutzt. Es ist neoliberal: „And, you know, there’s no such thing as society“, hat es Margaret Thatcher paraphrasiert. Es geht nicht mehr um Einverständnis und sexuelle Vereinigung, sondern um Übernahme. Zudem besteht die perfide Anpassung des Virus in seiner absichtslosen Variabilität, indem bei der Replikation seiner selbst zufällig Fehler auftreten. Die fehlerhafte Kopie meiner selbst kann kommende neue Wirtszellen sogar noch besser für mein Vermehrungsprogramm manipulieren.
Egoismus ist Grundvoraussetzung für das kapitalistische Prinzip – das während der Pandemie-Höchstkurve vorübergehend zwar ausgehebelt wurde, aber vermutlich ja nur deswegen, weil Kapital letztlich auf lebendige Konsumenten angewiesen ist – Tote konsumieren nicht. Das Prinzip Egoismus begegnete uns auch in der Coronakrise schamlos und unverhohlen: Donald Trump schreibt auf die von der US-Regierung ausgegebenen Schecks seinen eigenen Namen – und könnte damit seine Wiederwahl sichern. Aus Krankenhäusern gestohlene Desinfektionsmittel und Schutzmasken sind ebenso Ausdruck des Ich-Prinzips wie die gefälschten Webseiten in verschiedenen Bundesländern für Corona-Schutzschirm-Bedürftige. General Motors weigerte sich im März, auf den Bau von Beatmungsgeräten umzuschwenken: wegen zu geringen Gewinnspannen.
Was nun nötig scheint, ist eine neue Wirologie. Brüderlichkeit, Schwesterlichkeit als Gegenmodell zu Ausbeutung und egoistischem Wachstum; Neuausrichtung zu solidarischeren Lebensformen, kurz: Wie können wir überleben, wie wollen wir leben? Die Beantwortung dieser Fragen beginnt mit der Bereitschaft innezuhalten. Im Zurückgeworfensein auf das Selbst tritt die Bedeutung der Beziehungen und das, was sie sozial und kulturell belebt, plötzlich glasklar hervor.
Können wir noch ein wenig träumen?
Die Theaterregisseurin Susanne Kennedy wirbt gerade auf der Website des Goethe-Instituts für ein neues Verständnis der „Inkubationszeit“. Denn die „incubatio“ wird im Lateinischen als Tempelschlaf bezeichnet, bei der ein Kranker das Heiligtum eines Gottes aufsucht in der Hoffnung, durch des Schlafes Traum einen Hinweis auf eine wirksame Therapie seiner Krankheit zu erhalten.
Könnten wir alle die Gelegenheit nutzen, noch ein wenig zu träumen? Könnte es um eine Erweiterung der gedachten Möglichkeitsräume gehen – Wachstum in eine ganz andere Richtung? Und könnten wir die Inkubationszeit als Ansporn verstehen, zu ändern, was wir sowieso schon längst ändern wollten?
Die Zeit scheint überreif, mit dem Träumen, aber auch mit einer vertieften gesellschaftlichen Diskussion über unsere Träume loszulegen. Und dann nicht bei der Diskussion zu bleiben, sondern auf allen notwendigen Ebenen auch ins Handeln zu kommen: politisch, wirtschaftlich und bürgerlich. Dann käme der eingangs zitierte Witz zu einem anderen Ausgang: „Treffen sich zwei Planeten. Fragt der eine: Und, wie geht’s so? Sagt der andere: Ach, nicht so gut, ich hab Mensch! Der eine dazu: Du, nicht so schlimm. Am Anfang Panik und Fieber, Ängste, Wahnvorstellungen. Aber seitdem es vorbei ist, fühl ich mich wie neugeboren.“
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