Die Genderdebatte auf dem Kirchentag: Verändern ja, aber bitte nicht so viel!
Auch auf dem Kirchentag findet man offen sein super. Solange die Mama zu Hause bleibt und Schwule nicht gesegnet werden.
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Gender geht auf dem Kirchentag wie warme Semmeln: In Stuttgart gibt es ein eigenes „Zentrum Gender“, da haben Veranstaltungen gewagte Titel wie „Frauen, Männer und mehr?!“ Langsam wird wohl sogar hier entdeckt, dass es bei Geschlecht und Gender vielleicht doch mehr als nur die Binarität gibt. Und mehr als die Heterosexualität. Passend zu aktuellen politischen Debatten haben die Homos auch noch ihr „Zentrum Regenbogen“ gekriegt, denn mit #Ehefüralle, so soll suggeriert werden, hat wohl hier auch keine_r mehr ein Problem. Pustekuchen.
Aaron Boettcher, 17, der in seiner Gemeinde in einem kleinen Ort in Nordrhein-Westfalen Jugendarbeit macht, sagt: Doch, die Kirche hat Angst vor Gender. Er findet das aber nicht schlimm – es war schließlich super, dass seine Mutter daheimgeblieben ist und sich um ihn gesorgt hat. Sein Papa sei auch okay gewesen, aber er kann sich so gar nicht vorstellen, dass seine zukünftige Frau arbeiten geht und er daheimbleibt. „Es ist schon gut, dass sich etwas verändert, aber bitte nicht so viel.“ Einen Schwulen kennt er zwar in seinem Ort, aber befreundet sind sie nicht.
So ähnlich sehen das auch Lisa und Vicky, zwei Studentinnen aus Hermannsburg nahe Lüneburg. Sie studieren eine Mischung aus Theologie und sozialer Arbeit und finden die ganze Genderdebatte überflüssig. „Ist doch alles gut so, wie es ist!“ Sie lachen. Gesegnet werden sollten Schwule auch nicht, „normal“ sei das ja nicht.
Ziemlich anders äußert sich Volker Jung, der Kirchenpräsident der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Er spricht sich für die Ehe für alle aus, für das Adoptionsrecht und einen toleranten Umgang mit Trans*- und Inter*-Menschen. „Sexualität ist eine Gabe Gottes. Und die Genderdebatte ist für mich vor allem eine Gerechtigkeitsdebatte. Das ist der biblischen Botschaft nicht wesensfremd, sondern eigentlich ihr Kern.“ Er gibt zu, dass seine Position nicht immer unterstützt wird.
Kirchentage unter evangelischen ChristInnen heißt: Ernst zu nehmen, was dort verhandelt, erörtert, begrübelt und was direkt zur Sprache gebracht wird.
Die taz war immer so frei, gerade das an Kirchentagen aufzuspießen, was allzu wohlgefällig im „Allen wohl und niemand weh” unterzugehen droht. Streit nämlich, echte Kontroverse und das Vermögen, scharf Stellung zu beziehen.
Deshalb begleiten wir den Kirchentag auch: in Stuttgart vor Ort und mit vier täglichen Sonderseiten in der Zeitung. Zum ersten Mal schickt die taz Panter Stiftung dafür junge Journalisten nach Stuttgart, die die Berichterstattung übernehmen. Die elf ReporterInnen sind weit angereist, aus Mainz, Berlin oder Hamburg etwa. Es berichten: drei Katholiken, zwei Protestanten, eine Muslima und fünf Atheisten.
Die Auslegung der Bibel ist eine grundsätzliche Frage, die auch die Protestant_innen in zwei Lager spaltet. Sind Mann und Frau gleich im Sinne der Schöpfung? Wie genau sind Bibelstellen zu verstehen, in denen klar die Heterosexualität und der Mann favorisiert werden? Eigentlich wird die Auslegung der Bibel, also ihre Exegese, bereits seit Jahrhunderten im jeweiligen historischen Kontext betrieben. Wenn jüngere Protestant_innen die Bibel auslegen, denken sie darüber vielleicht nicht nach. Oder darüber, wie das Wort „normal“ zu verwenden ist.
Antje Schrupp hat mit „normal“ ein Problem. Sie ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin, Feministin – und, das gibt es nicht oft: gläubig. „Die evangelische Kirche versucht seit Jahren, die Definition von ‚normal‘ zu erweitern. Dabei müsste Normalität als Konzept hinterfragt werden.“ Homosexualität zum Beispiel sei inzwischen normal, nach einem langen Kampf. Dabei seien andere Themen vernachlässigt worden, die eigentlich dazugehören müssten. Wie andere Formen von Sexualität. Wie andere Geschlechter.
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