Die Gefahren des digitalen Impfpasses: Zutritt nur für Gesunde
Was passiert, wenn Gesundheit ausweispflichtig wird? Warum der digitale Impfpass zu einer verstärkten Biologisierung der Gesellschaft führen könnte.
In den Schränken und Schubladen der Bürger lagert ein Dokument, dem man lange Zeit kaum Beachtung schenkte: der Impfpass. Wenn man nicht gerade seine Standardimpfungen auffrischen ließ, staubte das gelbe Büchlein munter vor sich hin. Niemand wäre auf die Idee gekommen, sich mit diesem Dokument auszuweisen.
Warum auch? Man hat ja einen Personalausweis. Allenfalls bei der Einreise in ein westafrikanisches Land oder in Mittel- oder Südamerika, wo die Gelbfieberschutzimpfung vorgeschrieben ist, musste man das Heft vorzeigen (wobei die Zöllner häufig gar nicht nachfragten). Doch das könnte sich bald ändern. Seit Wochen tobt ein Streit, ob man künftig bei der Einreise neben seinem Reise- auch seinen Impfpass vorzeigen muss.
Die australische Fluglinie Qantas hat bereits angekündigt, nur noch Passagiere mit einem Impfnachweis zu befördern. Tech-Konzerne wie Microsoft, Oracle und Salesforce basteln an einem digitalen Impfpass. Und in Los Angeles County können sich Bürger, die sich gegen Covid-19 geimpft haben, ein elektronisches Impfzertifikat auf ihr iPhone laden. Nicht nur bei der Einreise am Flughafen, auch in Cafés und Restaurants könnte der Impfpass bald obligatorisch werden.
Dass man ein ärztliches Zeugnis, dessen Geschichte ins 19. Jahrhundert zurückreicht, digitalisiert, ist nur konsequent, schließlich steht seit Beginn des Jahres allen Versicherten die elektronische Patientenakte (ePA) zur Verfügung. Bei aller Kritik an Datenschutz und Datensicherheit kann es durchaus sinnvoll sein, dass ein Arzt im Notfall auf Patientendaten zugreifen kann. Man muss nicht mühsam das gelbe Impfbuch suchen – die Information ist elektronisch abrufbar.
Doch so praktisch die Digitalisierung des Impfpasses erscheint, so sehr verstört der Gedanke, dass sich Bürger an allen möglichen Orten künftig mit ihrer Gesundheit legitimieren müssen. Es macht schon einen Unterschied, ob man den Impfpass nur beim Arzt vorzeigt oder auch in einem Café. Je mehr Organisationen einen Impfnachweis verlangen, desto mehr bekommt dieses Zertifikat den Charakter eines Passierscheins.
Dass mit der Immunisierung auch eine Biologisierung von Gemeinschaft einhergeht, ist ein Trend, der schon seit einigen Monaten zu beobachten ist. Die Mitarbeiter der Fast-Food-Kette Subway in einer Filiale in Los Angeles werden täglich von einer Fieber- und Gesichtserkennung gescreent, um keine Infektion einzuschleppen. Immer mehr Unternehmen setzen auf Wärmebildkameras oder Stirnthermometer, um die Gesundheit ihrer Mitarbeiter und Kunden zu checken. Wer Fieber hat, muss draußen bleiben.
Bio-Macht des Staates
Wenn jetzt aber dieser Biologismus durch Impfpässe amtlich beglaubigt wird, wird gewissermaßen die „Geschäftsgrundlage“ der demokratischen Gesellschaft verändert: Die Zugehörigkeit zum – biologisch definierten – „Volkskörper“ hängt nicht mehr allein von wohl erworbenen Rechten ab, sondern von der körperlichen Integrität des Einzelnen. Es macht die Impfzentren zu Passbehörden. Der französische Philosoph Michel Foucault sprach in seinen Vorlesungen von einer „Verstaatlichung des Biologischen“, einer „Bio-Macht“ des Staates, die die Körper regiert.
Abgesehen von der Masernimpfpflicht für Kinder und Erzieher war die Gesundheit für die Teilhabe am öffentlichen Leben vor Corona eher zweitrangig. Man konnte mit Fußpilz ins Schwimmbad gehen, vergrippt in einem Konzertsaal sitzen oder todkrank in einen Flieger steigen, solange man nicht völlig abgerissen aussah und ein gültiges Ticket vorzeigen konnte. Man zog sich allenfalls böse Blicke des Nachbarn zu, wenn man das Husten nicht in den Griff bekam.
Und ja: Vielleicht war diese Unbedarftheit auch fahrlässig, weil sich so Viren munter in der Welt verteilen konnten. Doch jetzt, während der Pandemie, wo an jeder Ecke der virologische Feind lauert, wird Gesundheit plötzlich ausweispflichtig, schlimmer noch: wird Kranksein abgestempelt und sozial geächtet.
Der französische Schriftsteller Bernard-Henri Lévy schreibt in seinem Essay „Ce virus qui rend fou“, dass der „contrat social“ (Gesellschaftsvertrag) durch einen „contrat vital“ (Gesundheitsvertrag) ersetzt werde: Statt wie bisher einen Teil seiner Einzelinteressen zugunsten des Allgemeininteresses abzutreten, tauscht der Bürger seine Freiheit gegen eine „Antivirusgarantie“ ein – und akzeptiert damit den Übergang vom Sozial- zum Überwachungsstaat.
Wie schnell wir bereit sind, diesen Sozialvertrag aufzukündigen, beweist die Debatte um Sonderrechte für Coronageimpfte: In der Hoffnung, das „alte Leben“ zurückgewinnen, wird faktisch eine soziale Selektion betrieben: hier die Geimpften, dort die Ungeimpften.
Gleiches gleich behandeln
Wenn Bundesjustizministerin Christine Lambrecht behauptet, es gehe nicht um Privilegien, „sondern um die Rücknahme von Grundrechtsbeschränkungen“, dann hat sie einen zentralen Grundsatz des Rechtsstaates nicht verstanden: die Gleichheit vor dem Gesetz.
Grundrechte heißen so, weil sie grundsätzlich für alle Bürger im Land gelten. Der Grundsatz lautet: Gleiches darf nicht ungleich behandelt werden. Wenn man Lockerungen für Geimpfte unter der Voraussetzung zulässt, dass sie nicht infektiös sind, akzeptiert man nicht nur stillschweigend eine Ungleichbehandlung von Geimpften und Nichtgeimpften, sondern macht die Ausübung von Grundrechten von biologischen Merkmalen abhängig.
Zugespitzt: Nur wer Antikörper hat, gehört zum Volkskörper. Damit macht man etwas zu einem Differenzierungs- und Diskriminierungsmerkmal, was niemals differenzierungsfähig sein darf: die Menschenwürde.
Den Staat hat es aus gutem Grund nicht zu interessieren, ob ein gesunder oder vorerkrankter Mensch seine Dienste in Anspruch nimmt. Ein Mensch mit Herpesviren darf genauso in ein öffentliches Schwimmbad wie ein HIV-positiver Mensch. Ein privates Unternehmen wie ein Restaurant oder Kinobetreiber darf nur bedingt Einlasskriterien erlassen. Erstens weil es über die unmittelbare Drittwirkung an Grundrechte und zweitens weil es an das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz gebunden ist.
Welche Gesundheitsdaten dürfen Staat und Private abfragen? Wo hört Infektionsschutz auf, wo fängt Diskriminierung an? Muss man sich künftig ein medizinisches Unbedenklichkeitszeugnis ausstellen lassen, um am öffentlichen Leben teilzunehmen? Was ist mit denen, die sich nicht mit ihrer Gesundheit ausweisen können?
Als Sachsen-Anhalt 2012 sein Polizeigesetz ändern wollte, um Personen von „Risikogruppen“ (gemeint waren Homosexuelle, Drogenabhängige und Obdachlose) zwangsweise auf HIV oder Hepatitis zu testen, gab es in der Öffentlichkeit einen Aufschrei.
Corona codiert das Soziale um
Von Diskriminierung und Stigmatisierung war die Rede. Die Deutsche Aidshilfe kritisierte das Gesetz als „völlig unverhältnismäßig“, weil es Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit und informationelle Selbstbestimmung verletzen würde. Die Vorschrift wurde schließlich gestrichen.
Knapp ein Jahrzehnt später werden Testungen nicht mehr als Eingriff wahrgenommen, sondern als Privileg. Was zeigt: Corona codiert das Soziale um. Womöglich würde man die Frage nach Zwangstests heute anders bewerten. Das HI-Virus ist schließlich noch immer eine Pandemie.
In Singapur, das wegen seiner Kontaktnachverfolgung als Vorbild in der Pandemiebekämpfung gilt, müssen Antragsteller auf eine Daueraufenthaltserlaubnis einen negativen HIV-Test vorlegen. Wer HIV-positiv und nicht mit einem Singapurer verheiratet ist, darf sich nicht länger als 90 Tage im Land aufhalten. In dem autoritären Stadtstaat sind vor zwei Jahren durch ein Datenleck Informationen von 14.200 HIV-Patienten an die Öffentlichkeit gelangt. Namen, Adressen, Telefonnummern – alles war im Netz einsehbar.
Das zeigt, wie heikel eine zentrale Speicherung sensibler Gesundheitsdaten sein kann. Ein Visum für Staaten wie Russland oder Katar zu bekommen, wo die Einreise ähnlich restriktiv behandelt wird, ist für diese Menschen nahezu unmöglich. Der gläserne Bürger ist am Ende nicht nur schutzlos, sondern auch „papierlos“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
US-Interessen in Grönland
Trump mal wieder auf Einkaufstour
Täter von Magdeburg
Schon lange polizeibekannt
Abschiebung erstmal verhindert
Pflegeheim muss doch nicht schließen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt